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Brief an den Frühling

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    ➡️ HIER lese ich Dir den Brief vor.   Frühling! Geschätzter! Geliebter! Liebster! Heiß und innig Erwarteter! Wie sehr Du mir ans Herz gewachsen bist, seit meine Jahresringe ihrem irdischen Ende immer rascher entgegenwachsen. Weißt Du eigentlich, um wie viel mehr ich Dich heute zu schätzen weiß als damals in meiner Kindheit, als noch mein ganzes Leben Frühling war? Konnte ich ahnen, dass diese noch völlig unreflektierten Gefühle eines Tages auf den vierten Teil eines Lebensjahres schrumpfen würden? Damals hörte ich Oma über den langen Winter klagen, über die Kälte, den Schnee. Opas Stube war, wie wir sagten, muckelig warm. Fast unerträglich warm für uns Kinder, die wir ständig in Bewegung waren. Wenn Du nahst, zieht auch heute noch ein Sehnen durch meine Glieder. Auf, auf!, scheinen sie zu rufen. Nutze uns, solange wir Dir zu Diensten sind. Du siehst, Du bist aufs Herzlichste willkommen mit Deinem jungfräulichen Strahlen, das all meine Sinne belebt.    Die er...

Das warme Gold - Ein Märchen

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  Das Anklicken der Überschrift führt zu einer Hörversion:   Das warme Gold   Vor sehr langer Zeit gab es einmal einen uralten riesigen Wald mit vielen Lichtungen. In jeder Lichtung stand ein Elfenbeinturm mit sieben Stockwerken. Manche Türme standen dicht beieinander, andere hatten einen größeren Abstand. Überall dort, wo zwei Türme dicht beieinanderstanden, konnte es dazu kommen, dass deren Bewohner an einem ihnen zusagenden Platz eine neue Lichtung schlugen und darauf einen neuen Turm bauten. Manchmal wurde aber auch eine Lichtung genutzt, die schon früher von einem Turm belegt war, der jedoch schon vor langer Zeit verfallen war, sodass nur der Wildwuchs vom Waldboden entfernt werden musste. Der Bau eines neuen Turms durfte nur in einer Vollmondnacht begonnen werden. Dazu bedurfte es eines Nachtrituals, bei dem die Erbauer einen magischen Trank zu sich nehmen mussten. Dieser wurde vom Zwergenvolk der Herzliebelben gebraut, die unter den Bäumen des Waldes wohnten. ...

Die weiß-rote Wahrheit

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Die weiß-rote Wahrheit Lautlos setzte er Schritt vor Schritt in den jungfräulichen Neuschnee. Den dicken Schal hatte er sich bis über die Nase gezogen, denn jeder nackte Atemzug schmerzte messerscharf prickelnd auf seinen Schleimhäuten. Eine Sonnenbrille schützte seine Augen nicht nur vor dem Licht der gleißenden Sonne, sondern auch vor den schärfsten Angriffen der eisigen Windböen, die über den Schnee fegten. Mal hier, mal dort, in weiten Schwüngen und auf ihren freien Wanderungen das lockere Weiß aufwirbelnd. Hermann beschleunigte seinen Schritt, denn er wusste, dass nur aus seinem eigenen Blut die innere Wärme wie eine Feuersglut im Kamin erhalten bleiben konnte, die man durch Luft, durch Anpusten mit seinem lebendigen Atem am Leben erhielt. Eine schwarze Krähe erhob sich aus einem Hügel am Wegesrand, gab zwei laute Schreie von sich und flog quer vor der Sonne davon. Doch flog nicht nur die schwarze Krähe, sondern noch ein zweiter, viel zarterer   Vogel durch die Luft. Im ...

Ein grüner Zug nach Irgendwo

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  Die Überschrift ist verlinkt mit meinem Vorlesepodcast, so dass man sich die Geschichte anhören kann. Ein grüner Zug nach Irgendwo Mein erstes war es. Mein allererstes. Es war die Erfüllung eines großen Herzenswunsches. Schon als Kind hatte ich ihn gehegt beim Studieren meiner Bilderbücher, in denen ich es hier und da – mal in Schwarz-Weiß, mal in faszinierenden bunten Farborgeln – über schlichtes weißes Papier wabern sah. Es war gemalt, niemals als Foto dargestellt. Und doch konnte ich seine Bewegungen, die dem Wehen einer großen Gardine ähnelten, auf dem Papier sehen. Es schien bereits längst ein Teil von mir gewesen zu sein und ich möchte gern annehmen, dass ich es aus früheren Leben bereits mitgebracht hatte. Es war kalt, aber nicht sehr kalt. Das Thermometer hatte am Morgen nur 8 Grad minus angezeigt. Das ist für Ende Februar recht ungewöhnlich in Finnisch Lappland, denn wie uns Einheimische erzählten, sei es um diese Zeit in früheren Wintern selten wärmer als 20 G...