Brief an den Frühling

 

 

➡️ HIER lese ich Dir den Brief vor.

 

Frühling! Geschätzter! Geliebter! Liebster!

Heiß und innig Erwarteter!

Wie sehr Du mir ans Herz gewachsen bist, seit meine Jahresringe ihrem irdischen Ende immer rascher entgegenwachsen.

Weißt Du eigentlich, um wie viel mehr ich Dich heute zu schätzen weiß als damals in meiner Kindheit, als noch mein ganzes Leben Frühling war?

Konnte ich ahnen, dass diese noch völlig unreflektierten Gefühle eines Tages auf den vierten Teil eines Lebensjahres schrumpfen würden?

Damals hörte ich Oma über den langen Winter klagen, über die Kälte, den Schnee.

Opas Stube war, wie wir sagten, muckelig warm.

Fast unerträglich warm für uns Kinder, die wir ständig in Bewegung waren.

Wenn Du nahst, zieht auch heute noch ein Sehnen durch meine Glieder. Auf, auf!, scheinen sie zu rufen. Nutze uns, solange wir Dir zu Diensten sind.

Du siehst, Du bist aufs Herzlichste willkommen mit Deinem jungfräulichen Strahlen, das all meine Sinne belebt. 

 

Die ersten Sonnenstrahlen dringen durch meine Haut, entspannen meine Muskeln, wenn ich mit geschlossenen Augen in meinem gemütlichen Korbstuhl auf der Terrasse sitze und der Sprache der Vögel lausche.

Sie spüren wie ich: Aufbruchstimmung, Neues wagen, in Erwartungslaune baden, erstes zartes Beginnen besingen.

Ich sehe, Geliebter, den Wandel auf Deiner Farbpalette. 

 

Die gelb-blaue Zeit steht an, wenn Winterlinge und Krokusse das Gelb einläuten, überstrahlt von sonnenverliebten Narzissen, gefolgt von blauen Veilchen, Traubenhyazinthen und Vergissmeinnicht.

Oh, wie dankbar bin ich Dir, dass Du mich nicht vergisst, mich morgens früh mit Amselgesang weckst, der mir Lust aufs Aufstehen macht.

Winter, geh hinter!, möchte ich mit einem Lächeln den weißen Schneesternchen zuflüstern, die heute noch meine Bettwäsche zieren.

Aufstehen, Aufstehen!, rufst Du mir zu.

Und ich antworte Dir mit einem Echo aus lindgrünem Leinen, das ich heute auf die Sommerdecke ziehen werde.

Oh ja, es ist so zart und lind und paart sich mit dem Leben vorm Fenster, bevor die Hitze des Sommers mit Wucht Deine zarten Schwingen packt und neue kräftige Farben durchs Land treibt.

Ich wische sie schnell weg, diese Gedanken an Deinen Abschied.

Denn jetzt – JETZT bist Du da, Geliebter.

Und wir wollen gemeinsam Deine Präsenz genießen.

Eis essen – zum ersten Mal vor und nicht in der Eisdiele, wo ich in den letzten Wochen meine Hände an einem Becher Trinkschokolade wärmte.

Im Wald spazieren und einen Hörfächer ausfahren, der die Gefiederten der Lüfte ortet und mich verführt, mit ihnen ein Schwätzchen zu beginnen.

Auf der Terrasse sitzen mit einer Tasse Tee mit zartem Blättergeschmack in Hellgrün.

Dabei feine Frühlingsgedichte lesen.

Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Johann Wolfgang von Goethe.

Ach, geliebter Lenz, der Du mich mit Wonne verzauberst, ich werde auf die Suche gehen.

Gleich, wenn ich meinen Brief beendet habe.

Aus meiner alten Bibliothek, die ein Leben lang gewachsen ist, werde ich einen Stapel bauen für mein Büchertablett.

Ich werde nach allem greifen, was Frühling verspricht.

Im Gedicht.

Oder nicht.

Frühlingslyrik, Frühlingsprosa, laut vorgelesen für meine liebe alte Freundin.

Eine Hommage an Dich, Geliebter!

Sie wird es noch mehr brauchen als ich, kam sie doch zehn Jahre vor mir auf die Welt.

Wir zwei werden Dich feiern.

In Gedanken und in Worten.

Heißa … vorwärts … ich bin bereit!


Deine Dich herzlich liebende

Veronika 

 der Lenz ist da – ha ha!

Kommentare

  1. Liebe Ulrike,
    poetisch und zum Verlieben schön sind Deine Zeilen, die dem Lenz huldigen. Zum Herz öffnen und frischen Frühlingswind im Geiste wehen lassen … sooo schön 🥰

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    1. "Anonym" ist okay, aber nun weiß nicht mal ich, wer meine Zeilen mit so netten Worten wertgeschätzt hat. Bitte wenigstens die Initialen angeben. 🙏🏼 Danke! LG Ulrike

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