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„Mama, weißt du, wie der Schwan sich fühlt?“, fragte Cygne. „Nein“, sagte Mama, „woher soll ich das wissen?“
Schon seit einer Viertelstunde standen sie am Teich des Kurparks. Papa hatte sich schon demonstrativ ein paar Schritte fortbewegt, um deutlich zu machen, dass ihm die Warterei langsam zuviel wurde.
Cygne ging nah an den Schwan heran, der neugierig seinen Hals hin- und herbewegte, als wolle er dem kleinen Jungen auf seine Art zeigen, dass er ihm vertraute, denn hinter ihm saß die Schwänin in einem großen Nest am Rand des Wassers, in das sie ihren kostbaren Schatz – sieben wunderschöne blassgrüne Eier – gelegt hatte. Cygne flüsterte leise etwas vor sich hin.
„Komm doch jetzt“, drängelte Mama, „wir wollen doch da hinten noch ein Eis essen. Und Papa will auch nach Hause.“
„Noch ein bisschen“, bettelte Cygne. Es fiel ihm schwer, sich von dem schönen weißen Tier zu trennen. Als er merkte, dass Papa schon ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat, sagte er wie ein vernünftiger Erwachsener: „Na gut, aber wir kommen bald wieder, ja?“
„Was findet der Junge nur an diesen langweiligen Gänsen?“, sagte Papa vor sich hin und löste damit einen Schwall von Erklärungen bei seinem Fünfjährigen aus.
„Papaaa, das sind doch keine Gänse!“, empörte sich der Junge. „Das sind doch Schwäne! Weißt du, dass diese Schwäne ihre Kinder auf dem Rücken tragen, wenn sie noch ganz klein sind?“
„Du meinst, so wie ich, wenn ich dich Huckepack nehme?“
„Ja, so wie du das mit mir manchmal machst. Und weißt du auch, dass sie ganz weit fliegen können, wenn ihnen das Wetter nicht gefällt?“
„Schwäne sind doch keine Zugvögel, soviel ich weiß“, wunderte sich Papa.
„Doch, ich weiß, dass sie das können. Hundertpro!“
„So so“, meinte Papa, „was du nicht alles weißt. Woher hast du das eigentlich?“
„Sofie hat uns das im Kindergarten vorgelesen.“
„Aus einem Buch über Schwäne?“, meinte Papa. „Aha, interessant“, sagte er, fand es aber eigentlich gar nicht so faszinierend. Was interessierte ihn das dumme Federvieh?
„Aber können wir jetzt gehen?“, setzte er ungeduldig hintendran.
„Na guuut“, beugte sich der Junge und schüttelte sein blondes lockiges Haar aus stillem Protest. Irgendwie wünschte er sich ja auch sein Eis. Und wenn er jetzt nicht mitging …
„Mama, wir kommen aber bald wieder, ja? Ich will doch auch die Kinder kennenlernen.“
Leserkommentare:
- Oh, das ist aber eine süße Idee und Geschichte! Das finde zumindest ich als ziemlich großes Kind! (Christine Amon)
- Da fängt ja wieder eine wunderbare Geschichte an. Ich freue mich darauf. (Christine Sollerer-Schnaiter)
Endlich war es soweit: Cygne wurde sechs Jahre alt. Wie lange hatte er sich schon auf diesen Tag gefreut, bedeutete er doch, dass er bald in die Schule kommen würde. Am 6.6. hatte er Geburtstag.
„Was wünschst du dir denn zu diesem besonderen Geburtstag?“, hatte Mama ihn ein paar Wochen vorher gefragt.
Cygne hatte nicht lange gezögert: „Ein Schwanenküken. Können wir die Schwanenmama nicht überreden, ein Küken abzugeben?“
„Was ist das denn wieder für eine Spinnerei?“, hatte Papa gemeint, als Mama ihm von Cygnes Wunsch erzählte.
„Du, er meint das wirklich ernst“, hatte Mama gesagt. „Wenn er keinen Babyschwan bekommt, dann möchte er ein Klavier. Das war seine Alternative. Du weißt doch, wie sehr er Klaviermusik liebt.“
„Unser lieber Herr Sohn scheint wohl überhaupt nicht zu wissen, was so ein Klavier kostet. Und dann womöglich auch noch Unterricht dazu.“
„Lass mal“, beschwichtigte Mama, „ich habe da schon eine Idee, bei der wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können.“
„Welche zwei Fliegen?“, fragte Papa verwirrt.
„Ganz einfach – Schwan und Musik!“
„Schwanenmusik?“, fragte Papa und setzte sich an den Küchentisch. „Oder was jetzt? Ich kapier‘ nicht, was du meinst.“
„Warte“, sagte Mama und griff in den Stapel Tageszeitungen, der auf der Fensterbank lag. Sie legte eine Zeitung nach der anderen neben den Stapel. „Wann war das nur?“ Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf: „Hier – ich hab’s – es war in der Samstagausgabe im Kulturteil. Hier steht’s: Lang Lang kommt nach Buchtbach. Und zwar genau am Samstag nach Cygnes Geburtstag. Stell dir vor, was er spielt …“
„Na, da bin ich aber gespannt“, murmelte Papa. „Musik – klar. Schwan? Schwanensee? Soviel verstehe ich nun aber auch von Musik, dass ich weiß, dass Schwanensee ein Ballett ist und das dürfte wohl kaum von Lang Lang gespielt werden, oder?“
„Stimmt. Aber Lang Lang spielt den >Karneval der Tiere< von Camille Saint-Saëns.“
„Hab‘ ich schon mal gehört“, meinte Papa. „Aber ob darin ein Schwan vorkommt?“
„Ja, so ist es!“, triumphierte Mama.
„Aber das Konzert ist doch bestimmt viel zu teuer …? Außerdem – wann ist das überhaupt? Am Samstag nach Cygnes Geburtstag? Da wollte ich doch nach Randenburg zum Fußball. Also, das geht nicht. Ich hab‘ mich schon mit Alex verabredet.“
„Kann der nicht mal alleine gehen? Wie oft wird denn dein Sohn sechs Jahre alt und kommt in die Schule?“
Leserkommentar:
Der Papa in der Geschichte kommt ja gar nicht gut weg. (ratz)
Ein Klavier, dachte Papa, das kommt überhaupt nicht in Frage.
So schlecht war Mamas Idee gar nicht. Und die 350 € plus zwei Erwachseneneintrittskarten je 420 € sollten dann eben sein. Oma und Opa und Cygnes Patenonkel würden bestimmt auch noch etwas dazulegen, zur Einschulung würden sie sicher auch noch was locker machen. Für 1000 € würden sie sicher kein vernünftiges Klavier bekommen, der Unterricht käme ja auch noch dazu. „Nun denn“, sagte Papa, „so etwas Großartiges gönnt man sich vielleicht nur einmal im Leben. Dann machen wir es so.“
Trotzdem lag auf der Entscheidung ein Schatten, denn das Fußballspiel an dem Wochenende sollte ein entscheidendes Spiel für seinen Lieblingsverein sein.
Mama gab sich große Mühe. Sie besorgte einen kleinen Schwan als Kuscheltier und steckte ihm die bestellten Eintrittskarten hinten zwischen die Flügel. So begann der 6.6. mit einer großen Überraschung.
Cygne tapste direkt nach dem Aufstehen barfuß ins Wohnzimmer, wo er seinen Geburtstagstisch erwartete. Doch der Couchtisch war leer. Enttäuscht rief er: „Mama? Mamaaaa! Ich habe doch heute Geburtstag!“
„Aber ja, mein Schatz“, hörte er sie aus der Küche rufen. „Komm nur her. Dieses Mal brauchen wir für deine Geschenke keinen ganzen Couchtisch. Dein Frühstücksplatz reicht. Aber schau es dir doch erstmal an …“
Neugierig lugte Cygne um die Ecke, sah auf dem Tisch nur sechs brennende Kerzen und einen … jaaa! Einen Babyschwan! Doch im selben Augenblick erkannte er, wie steif das Tier auf dem Tisch saß. Ein Kuscheltier? Er war jetzt sechs Jahre alt und bekam ein Kuscheltier???
„Komm, mein Schatz“, sagte Mama und begegnete ihm mit weit geöffneten Armen. „Es ist nicht das, wonach es aussieht!“, sagte sie mit eigenartig glänzenden Augen. Weinte sie etwa? „Komm mal her, nimm das Kleine mal in den Arm und schau mal unter seinen Flügeln nach, was es dir mitgebracht hat.“
Cygne griff ungläubig unter die Flügel. Wurde er gerade veräppelt? Doch da raschelte etwas. Er zog es heraus und sah vier Buchstaben. L und A und N und G. Und dann dieselben Buchstaben noch einmal. Die hatte er im Fernsehen schon mehrmals gesehen. „Lang?“, fragte er unsicher. „Lang Lang?“
„Jaaa!“, platzte es aus Mama heraus. „Stell dir vor, er kommt nach Buchtbach. Nur 30 km von uns entfernt nach Buchtbach!! Was sagst du dazu?“
Cygne konnte es kaum glauben. Lang Lang, der berühmte Klavierspieler, bei dessen Musik er sofort zu träumen begann, kam nach Buchtbach? „Mamaaa“, rief er, „danke Mama! Danke Papa!“
Papa war inzwischen auch aufgestanden und schaute sich seinen Schuljungen an. Wie groß er geworden war. Und wie sehr er sich über so ein Geschenk freuen konnte. Vielleicht ist so ein Konzert ja doch ganz schön, dachte Papa und gratulierte seinem blondgelockten Sohn …
Leserkommentar:
Liebe Ulrike, du hast die Vorfreude auf dieses besondere Konzert mit einfühlsamen Worten eingefangen. (Silvia Peiker)
Spannung zwischen Löwe und Schwan
Im Konzertsaal saßen schon ganz viele Menschen. Cygne staunte. Er sah fast kein einziges Kind. Er ging mit seinen Eltern ein paar Stufen seitlich der Sitzreihen hinunter, dann in eine Reihe hinein, wo einige Erwachsene aufstehen und sie hindurchlassen mussten. Ein älterer Herr schaute ihn staunend an. Was mochte er denken? Cygne fühlte sich fast schon ein bisschen erwachsen zwischen all den großen Menschen. Das hier war etwas ganz anderes als Sofies Kinderbuchgeschichten oder die Lieder, die sie zusammen im Kindergarten sangen, während sie dazu in die Hände klatschten.
Er setzte sich zwischen Papa und Mama und schaute gebannt auf die hohe Bühne, wo bereits das Orchester saß und gleich Lang Lang erscheinen würde. Lang Lang … lang lang lang wird es hoffentlich nicht mehr dauern.
Ein Mann trat auf die Bühne. Das war doch nicht Lang Lang! Der hatte doch ganz andere Augen. Aber dann erzählte der Mann etwas über das Klavierkonzert, über Tiere …
„Tiere?“, dachte Cygne. „Was für Tiere? WAS für Tiere? Vielleicht auch ein Schwan?“
Und dann hörte er den Mann alle Tiere aufzählen: Löwen, hörte er. Hühner und Hähne, Esel, Schildkröten. Nein, kein Schwan. Ein Schwan kam nicht vor. Aber Gazellen und Zebras. Und ein Elefant sogar. Ein Schwan? Nein. Kängurus. Sogar Fische im Aquarium. Und ein Kuckuck. Und andere Vögel. Pianisten und Fossilien. Das sind doch keine Tiere, dachte Cygne und spürte Enttäuschung an seine Herzwand klopfen. Doch dann … da war er: Der SCHWAN! Ja, ein Schwan kam vor! Sein Lieblingstier – es war dabei! Sein Herz klopfte noch stärker, dieses Mal aber vor Erwartungsfreude. Wie wohl der Schwan aus Lang Langs Fingern auf die Tasten tanzen wird? dachte Cygne.
Die Großen klatschten in die Hände. Cygne klatschte mit, doch war das Klatschen so laut, dass er sich für einen Moment die Ohren zuhielt. Sie waren schon ganz heiß. Jetzt schon, dachte Cygne. Jetzt sind meine Ohren schon heiß. Dabei habe ich Lang Lang noch nicht mal gesehen. Und gehört schon gar nicht.
Es wurde still im Konzertsaal. Hinter ihm in einer der obersten Reihen schnäuzte sich ein Mann die Nase, eine Frau hüstelte rechts neben Mama. Papa schaute auf die Uhr. Ob er an sein verpasstes Fußballspiel dachte?
Und da war er … ganz plötzlich schritt ein kleiner Mann in einem glänzenden schwarzen Sakko von der linken Seite her auf die Bühne. Trug er ein Ledersakko? Oder war es ein glänzender Stoff? Langsam wurde das Licht im Publikumsraum etwas dunkler. Cygne zitterte fast vor Aufregung. Dort stand er: Lang Lang – der berühmte Pianospieler, den er schon mehrmals im Fernsehen gesehen hatte.
Der kleine große Künstler verbeugte sich vor seinem Publikum und drehte sich um. Er ging schnurstracks auf seinen großen Flügel zu, setzte sich, rückte den Klavierhocker ein kleines Stück weiter nach vorn und schloss die Augen. Seine Finger schwebten über den Tasten … und dann schwebte der erste Ton zu Cygnes Ohren …
Leserkommentar:
Das ist stimmungsvoll geschrieben und man ist quasi "mit dabei". Bei den KI-generierten Bildern fällt mir - und besonders bei diesem hier - eines auf: Es fehlt die Dynamik. Hier besitzt der Klavierspieler die Ausstrahlung eines Stilllebens. Ein Mensch als Zeichner/Maler würde diese "Dynamik" eines Musikers, der enthusiastisch in die Tasten haut, bestimmt viel eher hinbekommen. Wahrscheinlich ist es auch bei den KI-Texten ähnlich mit dem fehlenden "Schwung". (Anatolie)
Antwort:
Das ist
auf jeden Fall so, liebe Anatolie. KI-Geschichten sind "metallisch",
ihnen fehlt die Seele. Künstliche Intelligenz konstruiert. Die BILD-Erzeugung mit KI wähle
ich trotzdem, denn mir fehlt leider die Gabe, mal ganz fix acht
Aquarelle zu malen, um meine Geschichten zu illustrieren. Ich kann zwar
gut zeichnen, brauche aber immer viel Zeit dazu. Die KI-Bilder sind oft
auch fehlerhaft, vor allem, wenn man die Details betrachtet. Da hoffe
ich immer, dass man drüber hinwegsieht. Hier und da habe ich auch mit
Photoshop nachgearbeitet, Fehler retuschiert. Mein Ding ist ansonsten
das Schreiben bzw. das Malen mit Worten. Mit KI
"bastele" ich mir die Motive mit meinen Prompts (Verbalaufträgen)
selbst. Klappt manchmal erst nach vielen Durchgängen und vielen
Differenzierungen. Danke für Deinen kritischen Kommentar! (Die Autorin)
Cygne taucht ein in die Welt der Steine
Die Töne flogen unsichtbar durch den Raum. Die Tiere wanderten durch Cygnes Körper. Aus Tönen wurden Gefühle. Gefühle verwandelten sich in Bilder. Mama lauschte andächtig. Zwischendurch hielt sie Cygne immer wieder das kleine gefaltete Programmblatt hin, auf dem zu allerhand Geschriebenem immer ein Bildchen abgedruckt war. Ein Tier löste das andere ab. Doch dann kamen die Pianisten. Lang Lang schien ein paar Tastenübungen zu machen. Hin-her-hin-her-hin-her liefen seine Finger. Stupide. Wie bei einem Klavierschüler, der seine Finger trainieren muss.
Cygne schaute zu Mama. Auch sie war aus ihrem Lauschen aufgeschreckt. „Warte, nur noch ganz kurz“, flüsterte sie. „Gleich kommt dein Lieblingstier. Noch ein Stück, und dann …“
Cygne schaute zur anderen Seite. Papa blickte schon wieder auf seine Uhr. Dann drehte er sich um, dann wieder zurück. Er richtete seinen Blick auf die Bühne. Dort schien Lang Lang seine Übungen fortzusetzen. Wann hörte das denn auf? Tonleitern rauf und runter, immer wieder. Immer neu angesetzt. Immer einen Ton höher. Mama hob die linke Hand vom Schoß, als wolle sie damit beschwichtigend sagen: „Warte … nicht mehr lange …“
Papa wandte seinen Kopf zur Seite, schaute über ihn hinweg. Auch er hörte, was er auf der Bühne sah, doch schien seine Geduld schon längst am Ende zu sein. Ob er doch noch hoffte, bald den Konzertsaal verlassen und zu seinem Fußballspiel kommen zu können? Seine Ohren wackelten kurz. Hörte er überhaupt richtig zu?
Mama hingegen schloss wieder die Augen, lächelte versonnen und lauschte dem lustigen Spiel der Steine, in denen sich Tiere verewigt hatten, die früher einmal lebten. Fossilien, so nannte man solche Steine, in denen Schnecken, Muscheln und auch Teile von größeren Tieren zu erkennen waren. Cygne hatte selbst so eine Versteinerung zuhause, die er sich im Steinzentrum in Buchtbach einmal hatte aussuchen dürfen. Er hatte ihn auf seinem Schreibtisch liegen. Es war ein Schneckenhaus. Wenn er es in die Hand nahm und seine Augen schloss, konnte er das versteinerte Tier auf seiner Hand kriechen fühlen. Und jetzt konnte er mit geschlossenen Augen die Fossilien umeinander purzeln sehen. Lang Langs Finger purzelten unter- und übereinander wie kleine Steine, die man in einem Plastikeimer herumschüttelte. Immer und immer wieder. Kurze Pause – Schütteln – Pause – Schütteln.
Cygne schaute auf seine Sandalen. Seine Zehen bewegten sich. So wie Lang Langs Finger. Die Töne wurden zu Steinchen, die Steinchen wurden zu seinen Zehen. Ein Xylophon wechselte mit den Klaviertasten ab. Die Steinchen sprangen, hopsten.
Jetzt machten Cygnes Finger mit. Es wurden immer mehr Steine. Sie wurden schneller. Schneller. Cygne saß mit Lang Lang am Klavier. Mama lauschte lächelnd, während Cygne am Klavier saß und spielte. Er spielte mit. Mit den Zehen, mit den Fingern. Er WAR Lang Lang. Er bewegte seinen Oberkörper wie Lang Lang. Es war keine Brücke. Es war anders … die Welt um Cygne löste sich auf, als Papa ihn plötzlich unsanft anstieß und energisch forderte: „Hörst du mal auf mit dem Gewackel? Hör doch mal zu, statt hier so rumzueiern.“
Ein grober Schlag durchfuhr Cygnes Körper … und er sagte laut: „Mensch Papa, hör du doch mal richtig zu!“
Leserkommentare:
- Du schilderst dieses Konzert so lebendig, ich konnte so wie dein kleiner Protagonist die Töne und ihre Vibrationen fühlen🥰 PS:Ich liebe Klavierkonzerte🩷 (Silvia Peiker)
- Sehr schön beschrieben, wie Cygne so ganz erfüllt wird von der Musik und mit ihr verschmilzt. Und ja, schon sehr ungewöhnlich für so ein kleines Kind. Aber es gibt ja Ausnahme-Kinder mit einer besonderen Empfänglichkeit. (ratz)
- Was für ein musikalisches "Wunderkind", das mit sechs Jahren bereits ein solches Verständnis hat! (Theodor Leonhard)
- So, bei den ersten fünf Teilen dieser bezaubernden Geschichte habe ich mit Cygne mitgefiebert und dem „Geklimper“, wie es der Papa-Banause nennen würde, andächtig gelauscht. (Ferdinand F. Planegger)
Die letzten Fossilien verklangen, als Mama Cygnes rechten Arm drückte und ihm das Programmblättchen vor die Nase hielt. „Jetzt“, flüsterte sie, schaute einmal über ihn hinweg zu Papa mit einem vorwurfsvollen Blick. Wäre Papa doch lieber zu seinem Fußballspiel gegangen, dachte Cygne. Aber schon vergaß er den Gedanken wieder, denn er sah, wie sich Lang Lang kurz von seinem Hocker erhob und auf einen Cellospieler zeigte, der sich – wie er – erhoben hatte. Der Cellist verbeugte sich kurz, setzte sich wieder … und dann …
Lang Lang begann. Ein paar Töne auf und ab, als ob der Schwan ein paar Schritte machte, unsicher, ob er nun losgehen oder stehenbleiben wollte. Cygne schloss die Augen und lauschte. Nein, mehr als das. Er WURDE zum Schwan. Er wollte der Schwan SEIN. Ssein, Cygne, dachte er … der Schwan. Das bin ich. Cygne. Ich will jetzt der Schwan SEIN.
Mit seinen beiden Füßen, die zu Schwimmfüßen wurden, trat er mit Lang Langs Tastentönen hin und her und hin und her … und dann überlegte er es sich. Er wollte stehen bleiben. Jetzt. JETZT. Das Cello setzte ein und Cygne hob den linken Arm etwas in die Höhe. Dann den rechten. Der Schwan hob die Flügel an, breitete sie aus. Wie zu einem Tanz. Einem langsamen Tanz. Einem Traumtanz. Senkte die Flügel wieder, hob sie erneut an, veränderte die Winkel seiner Flügel. Seiner Arme. Cygne und der Schwan. Es gab keinen Unterschied mehr. Cygne und der Schwan waren ein und derselbe. Cygne, der Schwan. Cygne tanzte, bis er leise die Flügel senkte und Lang Lang ihm half, aus seinem Traum langsam und sanft zu erwachen. Cygne öffnete die Augen und war fast ernüchtert, weil er nicht das Nest mit den Eiern vor sich sah. Sein Schwanenweibchen, vor dem er den Liebestanz aufgeführt hatte. Cygne hatte Tränen in den Augen. Es war vorbei. Einfach vorbei.
Doch da setzte das furiose Finale ein.
Alle Tiere, auch die Pianisten und die Steine schienen noch einmal zusammenzukommen, es wurde laut, lauter … schneller … alle spielten mit. Cygne saß mit offenen Augen auf seinem Sitz und alle Körperteile wippten mit. Seine Ohren waren knallrot. Begeistert schaute er Papa an, der sich nun auch mitbewegte. Endlich hörte er wenigstens zu. …
Die letzten Töne – … zack zack – verklangen. Eine kurze Pause. Eine Frau in der Reihe hinter ihnen begann zu klatschen und zu pfeifen, alle anderen taten es ihr nach. Cygne spürte seine ganze Haut kribbeln, seine Lippen kribbelten, seine Hände klatschten. Er fühlte sich so groß!
Cygne war so voll. Voller ging es nicht. Sonst wäre er übergelaufen. Ja, er lief wirklich über auf der Fahrt nach Hause. Er erzählte Mama, die vor ihm auf dem Beifahrersitz noch immer von dem Konzert schwärmte: „Du Mama, das war das schönste Geburtstagsgeschenk der Welt. Und weißt du, warum? Ich konnte der Schwan SEIN!“
Mama lächelte wissend. Dann sagte sie: „Mein lieber Cygne, du BIST ein Schwan!“ – „Wieso?“, fragte er. – „Wir haben dir den Namen eines Schwans gegeben. Cygne ist ein französischer Name und er heißt SCHWAN. Und wenn wir dich rufen, dann rufen wir SSSEIN! Und unser Nachname Dulac heißt vom Teich.“
Leserkommentar:
In Cygne hatte sich ein dicker leidenschaftlicher Strang entwickelt, von dem er nicht mehr abweichen konnte. Jetzt, da er wusste, dass seine Eltern ihn mit der Namensgebung Cygne, was ja Schwan bedeutet, quasi erkannt hatten, würde er nie mehr in seinem Leben seinen „inneren Schwan“ vernachlässigen.
Aber da war noch mehr, nämlich seine tiefe Liebe zur Musik. Für immer würde er Lang Lang als einen Menschen in seinem Gedächtnis tragen, der ihn mithilfe seiner Eltern mit diesem wunderbaren musikalischen Schwan im Karneval der Tiere verbunden hatte. Nur durch ihn war es ihm möglich gewesen, ganz Schwan zu werden, den Liebestanz des Schwans mitzutanzen und ihn tief in seinem Herzen zu tragen. Immer wieder schwärmte er von dieser Melodie. Vor seinem 7. Geburtstag setzte er seinen Eltern wieder zu mit seinem Wunsch, ein Klavier zu bekommen.
„Geht das schon wieder los“, stöhnte Papa. „Ich dachte, mit dem Konzertbesuch hätten wir das Thema abgeschlossen.“ Immer wieder mussten sie erleben, wie Cygne beim Spielen diese Schwanenmelodie vor sich hin summte. Mama lächelte dazu, Papa schüttelte den Kopf. „Kann er nichts anderes singen?“
„Aber Horst“, sagte Mama, „wenn er doch diese Melodie so liebt, dann lass ihn doch.“
„Ja“, meinte Papa, „ich befürchte nur, dass er sich langsam zu einem Sonderling entwickelt. Ist dir mal aufgefallen, dass er gar keinen richtigen Freund hat?“ „Ich weiß“, sagte Mama, „aber wie willst du das ändern?“
„Ihn mal mitnehmen zum Fußball zum Beispiel?“, schlug Papa vor. „Damit er mal ein bisschen kräftiger wird. Etwas mehr Sport würde ihm auch ganz gut tun. Ich könnte ihn doch im Kinderfußballverein anmelden, da würde er lernen, sich körperlich durchzusetzen.“
„Ach Horst“, lächelte Mama, „versuch’s doch. Ich habe nichts dagegen, aber ich werde ihn auch nicht dazu überreden oder ihn vielleicht sogar zwingen. Nicht mit mir.“
Ein paar Tage später versuchte Papa, ein Gespräch mit dem inzwischen fast siebenjährigen Jungen zu führen. „Schau mal“, versuchte er ihn zu überzeugen, „wenn du im Fußballverein bist, dann lernst du andere Jungen kennen. Du wirst dich nachmittags mit ihnen verabreden können. Dann könnt ihr auch zusammen zum Sportplatz gehen und dort zusammen spielen.“
Cygne war nicht dumm, also gab er nach, stellte aber eine Bedingung: „Aber nur, wenn ich zum 7. Geburtstag ein Klavier bekomme. Kann auch ein altes sein, aber ich möchte so gern …“
„Kommt nicht in Frage!“, polterte Papa los. „Das Thema ist durch. Ende. Basta.“
„Dann will ich auch nicht Fußball spielen. Ende. Basta!“, polterte Cygne zurück.
Mama hatte das Gespräch aus einem anderen Zimmer mitverfolgt …
Leserkommentar:
"Basta"! Damit kann man vielleicht in der Politik punkten, aber nicht in der Erziehung. (Theodor Leonhard)
Die nächste Generation - eine neue Leidenschaft!
„Erinnerst du dich eigentlich gar nicht daran, dass nicht ein Klavier, sondern ein Cello den Schwanentanz gespielt hat?“, fragte Mama ihren hartnäckigen Sohn.
Cygne horchte auf. Stimmt ja, dachte er, Lang Lang hat nur die ersten Töne gespielt. Und das Cello hat dann den Tanz gespielt. Ob ich mir ein Cello wünsche?
„Und noch etwas“, sagte Mama. „ich habe mal im Internet nachgesehen, welche Instrumente noch den Schwan in dem Stück spielen können. Und dabei habe ich ein sehr schönes Instrument gehört.“
„Welches denn?“, fragte Cygne neugierig. Mit Mama konnte er wenigstens über Musik sprechen.
„Eine Querflöte“, erklärte Mama begeistert. „Magst du sie auch mal hören?“
„Au jaa!“, rief Cygne begeistert. Er hatte schon oft Querflötenmusik gehört. Sehr schöne Querflötenmusik. Und er hatte schon Kinder auf einer Querflöte spielen sehen. Diese Flöten hatten am einen Ende einen Bogen, damit ein Kind, das noch nicht so lange Arme hat, sie auch spielen kann.
Als er den Tanz des Schwans auf der Flöte gehört hatte, wünschte sich Cygne eine Querflöte. Er bekam sie zum 7. Geburtstag geschenkt und von Oma und Opa aus Frankreich, die sehr musikalisch waren, bekam er das Versprechen dazu, ihm den Unterricht zu bezahlen.
So lernte Cygne, den Liebestanz vom Schwan auf Querflöte zu spielen. Und auch Stücke aus dem Ballett „Schwanensee“ von Tschaikowsky. Die Noten bekam er sogar von Papa geschenkt.
Als Cygne Dulac erwachsen wurde, studierte er – nein, nicht Musik, sondern Modedesign. Er wurde ein sehr bekannter Designer, der besonders schöne Kleider entwarf. Unter seinen schönsten Kleidern war eine Kollektion von Ballett-Tutus für Tschaikowskys „Schwanensee“.
Er war schon 25 Jahre alt, als er eine Ballett-Truppe besuchte, um den Tänzerinnen seine Tutus anzupassen. Als er Svantjes Körpermaße mit dem Maßband abnahm, summte sie Camille Saint-Saëns‘ Schwanentanz. Genau den, den Cygne als Sechsjähriger zum ersten Mal gehört hatte. Er bekam eine Gänsehaut, nein, eine Schwanenhaut, und es kribbelte ihm überall. Wollte Svantje ihm zeigen, dass sie ihn mochte? Seine Ohren wurden ganz heiß und rot und da begriff er, dass er sich verliebt hatte.
Svantje und Cygne wurden ein Paar. Sie heirateten und Svantje bekam zwei Jahre später eine Tochter, die Elina hieß und noch zwei Jahre später einen Sohn, der Austin getauft wurde.
Als Austin sechs Jahre alt wurde und bald in die Schule kommen sollte, wünschte er sich zum Geburtstag …
???
Einen richtig tollen Lederfußball mit schwarzen und weißen Flecken drauf!!!
Leserkommentare:
- Liebe Ulrike, wundervoll, wie sich der musikalische und familiäre Reigen schließt. (Silvia Peiker)
- Das hätte ich mir auch gewünscht oder als Instrument ein Schlagzeug. (Theodor Leonhard)
- Bezaubernd...💖 (Irene Werren)
© Ulrike Nikolai 2024-06-08
Hinweis:
In Kürze wird diese Geschichte im Rahmen eines Buches für Kinder bei story.one erscheinen. Das Buch soll zwei längere Geschichten und ein Märchen enthalten:
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