Die weiß-rote Wahrheit
Die weiß-rote Wahrheit
Lautlos setzte er Schritt vor Schritt in den jungfräulichen Neuschnee. Den dicken Schal hatte er sich bis über die Nase gezogen, denn jeder nackte Atemzug schmerzte messerscharf prickelnd auf seinen Schleimhäuten. Eine Sonnenbrille schützte seine Augen nicht nur vor dem Licht der gleißenden Sonne, sondern auch vor den schärfsten Angriffen der eisigen Windböen, die über den Schnee fegten. Mal hier, mal dort, in weiten Schwüngen und auf ihren freien Wanderungen das lockere Weiß aufwirbelnd.
Hermann beschleunigte seinen Schritt, denn er wusste, dass nur aus seinem eigenen Blut die innere Wärme wie eine Feuersglut im Kamin erhalten bleiben konnte, die man durch Luft, durch Anpusten mit seinem lebendigen Atem am Leben erhielt. Eine schwarze Krähe erhob sich aus einem Hügel am Wegesrand, gab zwei laute Schreie von sich und flog quer vor der Sonne davon.
Doch flog nicht nur die schwarze Krähe, sondern noch ein zweiter, viel zarterer Vogel durch die Luft. Im Gegensatz zur Krähe war er weiß, sein Flug wirkte müde, denn kaum hatte er sich erhoben, senkte er sich schon wieder zu Boden.
Hermann setzte seine Brille ab, blinzelte in Richtung des merkwürdig zarten Vogels, den er erst nach vielen Schritten erreichen würde. Er schlich sich vorsichtig heran, befürchtete, das Tier zu erschrecken. Immer mehr näherte er sich der Stelle, an der sich das müde Tier herabgelassen hatte. Noch drei … zwei Schritte ....
Er blieb stehen. Auf dem Schnee lag ein Blatt weißes Papier. Es war kein Vogel, nein jetzt erkannte er erst, was es war:
Vor ihm im pudrigen Neuschnee lag ein Brief. Ein weißes Blatt Papier mit zwei Falten, einmal längs, einmal quer. Als er direkt davor stand, nahm er das durchfeuchtete Blatt hoch. Eine verschwommene Handschrift lag in vernebelter Tinte über das ganze Blatt verteilt. Darüber kreuzte ein großes rotes X, verband die jeweils gegenüberliegenden Ecken miteinander. Es waren fett glänzende Linien. Als er das Blatt schräg gegen das Sonnenlicht hielt, erkannte er, worum es sich handelte. Es waren kräftig und offenbar energisch mit einem Lippenstift gezogene Linien. Das Rot … dieses kaltleuchtende Rot. Wie gut er es kannte! Wie sehr hatte es ihn mal angezogen. Er hob den Brief an seine Nase … träumte von den leidenschaftlichen Küssen, die seine Lippen gefärbt hatten, so dass er vor der Rückkehr nach Hause die verräterischen Spuren sorgfältig mit einem Papiertaschentuch entfernen musste.
Ganz am unteren Ende des Blattes erkannte er noch ein paar ihm vertraute Buchstaben ... einen kurzen senkrechten Strich, danach etwas verwischte Tinte, dann ein r und ein m, verlaufend wie von Tränen benetzt, die auch ihm jetzt von den Wangen tropften.
Der Neuschnee hatte seine Sanftheit verloren und strahlte nur noch seine unbarmherzige Kälte ins Land …
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Liebe/r LeserIn, liebe/r ZuhörerIn, wenn Dir meine Geschichte gefallen hat oder Du etwas dazu sagen möchtest, machst Du mir mit einem Kommentar eine große Freude! Danke im Voraus! 🙏🏻