Ein grüner Zug nach Irgendwo
Die Überschrift ist verlinkt mit meinem Vorlesepodcast, so dass man sich die Geschichte anhören kann.
Mein erstes war es. Mein allererstes. Es war die Erfüllung eines großen Herzenswunsches.
Schon als Kind hatte ich ihn gehegt beim Studieren meiner Bilderbücher, in denen ich es hier und da – mal in Schwarz-Weiß, mal in faszinierenden bunten Farborgeln – über schlichtes weißes Papier wabern sah. Es war gemalt, niemals als Foto dargestellt. Und doch konnte ich seine Bewegungen, die dem Wehen einer großen Gardine ähnelten, auf dem Papier sehen. Es schien bereits längst ein Teil von mir gewesen zu sein und ich möchte gern annehmen, dass ich es aus früheren Leben bereits mitgebracht hatte.
Es war kalt, aber nicht sehr kalt. Das Thermometer hatte am Morgen nur 8 Grad minus angezeigt. Das ist für Ende Februar recht ungewöhnlich in Finnisch Lappland, denn wie uns Einheimische erzählten, sei es um diese Zeit in früheren Wintern selten wärmer als 20 Grad unter null gewesen.
Für diesen Tag hatten wir einen Ausflug geplant. Er führte uns 100 km weiter in den Süden, in die Hauptstadt Lapplands, nach Rovaniemi. Dort besuchten wir den Weihnachtsmann, der in einem Dorf mit vielen zauberhaften Lichtern Kinderherzen glücklich macht.
Auf dem Hinweg hatte es geschneit. Dicke Flocken begleiteten uns und gaben uns das Gefühl, in ein Wintermärchenland gefallen zu sein. Vor Ort jedoch - rund um den Weihnachtsmann - häufte sich nur viel Kommerz und wir freuten uns auf den Rückweg durch die weiße Natur.
Es war bereits dunkel und unser Blick klebte an der Temperaturanzeige des Leihwagens, den wir uns nach Ankunft in Rovaniemi für die Reisezeit von zwei Wochen am Flughafen ausgeliehen hatten. 12 Grad minus! Der Himmel war inzwischen ungewöhnlich schwarz, so dass man die unzähligen Sterne darin funkeln sehen konnte. Der Weg nach Norden führte durch die tiefe Dunkelheit auf schnurgerader Straße, deren Grauschwarz sich in eine weiße Schneise zwischen tief verschneiten Tannen verwandelt hatte. Ein helles Band, das nur kurzfristig durch unsere Scheinwerfer wie eine Richtschnur durch die eisige Landschaft führte.
16 Grad minus, 18 Grad minus, die Temperatur fiel stetig.
Endlich kamen wir wieder am Ferienhaus an. Ein letzter Blick auf die Temperaturanzeige und ich zuckte zusammen: -25° C! Morgens waren wir doch bei minus 8° losgefahren! Das war ein Temperatursturz von 17 Grad!
Ich griff nach hinten zur Rückbank, zog von dort meine dicke Winterjacke hervor, zog sie umständlich an, bevor ich das warme Innere des Autos verließ. Schnell griff ich die dicke Mütze aus der rechten Jackentasche und stülpte sie mir über den Kopf. Noch vor dem Anziehen meiner gefütterten Fäustlinge aus der linken Jackentasche zippte ich mir den Reißverschluss bis unters Kinn. Das Einatmen erzeugte ein Gefühl, als würden meine Nasenwände gleich zusammenkleben. Beim Ausatmen stieß mein Körper große weiße Nebelwolken aus. Ich zog meinen Kopf so tief wie möglich in den Jackenkragen und stapfte los. Doch mitten auf dem Weg zur Haustür zuckte ich zusammen. Es knallte, als hätte ein Jäger einen Schuss abgegeben. Wer jagt denn hier um diese späte Tageszeit? fragte ich mich. Dann hörte ich einen zweiten Schuss. Dieses Mal war ich innerlich vorbereitet und erkannte, dass es sich um ein Geräusch handeln musste, das nur von Holz stammen konnte. Der Knall war dumpf, nicht so scharf wie ein Gewehrschuss. Es musste mit der Kälte zusammenhängen.
Ich trat auf das Holzpodest vor der Haustür und hörte einen dritten Knall. Dieses Mal nahm ich ihn direkt neben mir wahr und realisierte, dass es die Hauswand war, deren Holz sich in der Kälte zusammenzog und seine Spannung in Rissen entlud.
Beruhigt betraten wir zu zweit das Ferienhaus, um es uns an meinem 60. Geburtstag am Kamin gemütlich zu machen. Ich bereitete uns ein einfaches warmes Abendessen zu, während mein Mann das Kaminfeuer in Gang setzte. Dann rief ich meine alte Mutter an, und gratulierte ihr zu meinem Geburtstag, denn es war ja auch für sie ein Feiertag. Während wir noch telefonierten - es war etwa 22 Uhr - ging mein Mann einmal ums Haus, um den Himmel zu inspizieren. Seit unserer Ankunft hatte es noch keine klare Nacht gegeben. Es war das erste Mal.
Plötzlich rumpelte es kräftig auf dem Holzpodest vor der Haustür und mein Mann stürzte mit polternden Stiefeln zurück ins Ferienhaus und schrie: „Es ist da! Komm, los komm schnell! Jetzt ist es soweit!“ Er griff nach Stativ und Kamera und verließ umgehend das Haus. Rumms – fiel die Tür ins Schloss.
Wie ein Feuerwehrmann zog ich mir in rasender Geschwindigkeit meine Thermohose und meinen dicksten Wollpullover an, was mir aber für die eisige Kälte noch nicht ausreichend schien. So stellte ich den Wasserkocher auf seine Platte, um mir eine Wärmflasche zu bereiten. Während sich das Wasser erhitzte, lief ich immer wieder vor die Haustür, um dem grünen Himmelszauber meine Aufmerksamkeit zu schenken.
Endlich war das Wasser heiß, ich füllte die Wärmflasche, steckte sie mir hinter den Bund meiner Thermohose und lief schnurstracks wieder nach draußen. So würde ich es länger in der Kälte aushalten können. Mein Mann hatte inzwischen seine Kamera auf das Stativ geschraubt und versuchte, das Nordlicht bestmöglich einzufangen.
Da standen wir nun, an meinem 60. Geburtstag, an einem 20.02., und ich spürte einen Strom zwischen dem grünen Licht und meinem Herzen. Ich war unendlich dankbar, dass ich nach mehr als 50 Jahren des Wünschens darin baden durfte. Herzenswünsche – so sagt man – gingen immer in Erfüllung, wenn auch manchmal sehr lange Zeit vergehen kann.
Dieses war das erste Himmelsgrün meines Lebens. Ich schaute hinein und redete.
Mit wem? Mit meinem ersten grünen DU, das ich wie einen Teil von mir empfand.
Ein paar Wochen später schaute ich mir die Nordlichtfotos zuhause auf meinem Computer an. Ich vertiefte mich in die schönste Aufnahme und hatte plötzlich das Gefühl, von etwas Größerem geführt zu werden.
Um wieviel Uhr war das eigentlich? Wann ist diese schönste Aufnahme entstanden?
So fragte eine Stimme in meinem tiefsten Inneren. Ich klickte mit der rechten Maustaste auf das Foto, dabei öffnete sich ein Fenster, in dem ich das Wort „Eigenschaften“ fand. Ich klickte darauf und las:
Erstellt: Donnerstag, 20.02.2014, 22:22:22!
Der Ort hat die Postleitzahl
99555
Und eines Tages, wenn das Universum mich für würdig erachtet, wird es mir den grünen Zug vorbeischicken, mich einsteigen lassen und auf dem Himmelswege direkt nach Norwegen bringen. Herzenswünsche gehen in Erfüllung, wenn man sie nur lange genug hegt …
Der Zielbahnhof
![]() |
Foto: Nikolai Dispen-Lødemel |
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Liebe/r LeserIn, liebe/r ZuhörerIn, wenn Dir meine Geschichte gefallen hat oder Du etwas dazu sagen möchtest, machst Du mir mit einem Kommentar eine große Freude! Danke im Voraus! 🙏🏻