Ovale Magie im Sand

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„Du … hör mal“, so rauschelte das rätselhafte Oval im Sand, als es an einem Seestern vorbeigeschoben wurde. „Ich bin etwas Besonderes. Weißt du das?“

„Was soll denn an dir besonders sein?“, fragte der Seestern. „Du bist doch langweilig. Dein Kleid ist grau und fleckig, du bist stinknormaloval, niemand wird dich beachten. Schau dagegen mal mich an. Ich habe fünf gleichmäßig geformte Arme, mit denen ich mich elegant vorwärtsbewegen kann. Unter meinen Armen habe ich kleine Saugnäpfe. Die sind so genial, das sage ich dir! Damit kann ich mich an große Schiffe anheften und Reisen durch die ganze Welt unternehmen. Du kannst dich ja nicht mal ernähren. Ich dagegen kann Miesmuscheln aussaugen und groß und stark werden.“

Das Oval sagte nichts.

Der Seestern hat keine Ahnung, dachte es. Meine Mission ist ganz anderer Natur. Und ich werde dafür sorgen, dass dem Seestern die Saugnäpfe übergehen.

„Tja, siehst du“, sagte der Seestern. „Da fällt dir nichts mehr ein. Übrigens zeugt es auch von außerordentlicher Klugheit, wenn man fünf Arme hat. Nicht umsonst sehe ich aus wie ein Stern, nicht wie ein Stein. Ich bin ein Star – ja, das bin ich. Ein ganz besonderer Star!“

Und um zu demonstrieren, wie beweglich er war und wie wichtig er war für die Welt, hob er keck einen Arm in die Luft. Damit wollte er sich absetzen von dem stumpfen und stupiden Wesen, das sich vom Ozean hin- und herschubsen ließ.

Doch das graue Oval ließ sich nicht beirren. Es wusste, was es zu tun hatte und rollte mit der nächsten heranrauschenden Welle auf den Strand.

Weise ist leise, das hatte es im Laufe seines Lebens gelernt. Liegend erwartete es seine Aufgabe. Sie würde kommen.

Ja, sie kam. Umgehend. Flotten Schrittes ging sie am Wassersaum entlang. Den Reißverschluss ihrer orangegelben Jacke hatte sie bis unters Kinn zugezogen. In der Hand hielt sie einen kleinen flachen Bildschirm, den sie hier und da mit dessen Rückseite gen Boden richtete. Dann tippte sie mit einem Finger darauf, um anschließend zu begutachten, was auf dem Bildschirm zu sehen war.

JETZT!, sagte sich das geheimnisvolle Oval und blieb liegen. Es spürte in all seinen Zellen, dass seine Zeit gekommen war. Es zeigte sich von seiner besten Seite. Das war der Beginn seines Auftrags. Wie lange hatte es dieses Antlitz geformt, mit dem es heute zur Geltung kommen, mit dem es seine magische Wirkung in Gang setzen wollte. An einen Hund sollte sein Aussehen denken lassen. Es wusste ganz genau, dass es von den meisten Menschen nicht beachtet werden würde. Gut so! Denn heute wollte es nur von einem bestimmten Menschen beachtet werden. Von Gudrun!

Ja … jaaa … jaaaaaa! Sie blieb stehen. Sie schaute auf ihn hinunter. Sie interessierte sich für seine Gestalt. Warum? Sie hatte Fantasie. Und sie konnte Erscheinungen und Entsprechungen wahrnehmen.

Wie lange hatte er sich durchs salzige Wasser rollen müssen, um diese skurrile Haut zu entwerfen, diesen merkwürdigen Zusammenhang darzustellen! Eine Hundesilhouette – an einem Strand mit so vielen Hunden!


Gudrun blickte ihn an. Richtig - IHN, denn sie dachte: Nanu, das ist ja ein merkwürdiger Stein!

Er war hellgrau. Er war fleckig, voller dunkler Einschlüsse. Und auf seiner Oberseite klaffte eine Öffnung. Eine Öffnung, die den Umriss eines kleinen Hundes darstellte.

Sie lenkte ihren Bildschirm auf ihn. Es klickte. Sie richtete sich wieder auf und staunte über ihn, den vermeintlichen Stein.

Ein Stein mit einer Öffnung ins Innere, die aussieht wie ein Hund, dachte sie. Zu komisch! Wo doch hier lauter Hunde herumlaufen.

Der vermeintliche Stein, das stinknormale Oval wusste, dass nun die Stunde seiner Zerstörung gekommen war. Neugierige Menschen sind einfach so. Sie müssen alles genau wissen, ganz genau erforschen. Und dabei gehen sie manchmal recht brutal vor.

Gudrun drehte das Oval um, fotografierte es von der anderen Seite. 


Wie ein Bimsstein, dachte sie. Grau, rau … aber was ist in seinem Kern? Warum sieht der Kern so anders aus? Wie Beton.

Mit ihrer Schuhspitze drehte sie das merkwürdige Ding wieder zurück auf die andere Seite.

 

Sie bückte sich, piekste neugierig mit dem Zeigefinger mitten in die Hundesilhouette.

In diesem Moment machte sich die Weisheit des ovalen Wesens bemerkbar. Es war sich seiner Aufgabe bewusst und in der Lage, all das, was nun geschah, in stoischer Gelassenheit zu ertragen.

„Huch“, äußerte Gudrun überrascht, als der homogene hellgraue Kern des vermeintlichen Steins ihrem Zeigefinger nachgab. Nun erst outete er sein wahres Wesen – seine Weichheit!

Gudruns derber Schuh mit Profilsohle bewegte sich auf seine Rückseite zu, nachdem Gudrun ihn erneut umgedreht hatte. Was führte sie im Schilde? Das ovale Wesen ahnte es: Sie fühlte sich der Wahrheit verpflichtet. Gudrun war einfach so. Sie musste immer alles ganz genau wissen. Aber vor dem Wissen kommt bekanntlich das Staunen und vor allem das Forschen.

Der berühmte Wissenschaftler Albert Einstein sagte einst dazu:

„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“

Und ein solcher Forschergeist trieb Gudrun dazu an, ihm, dem ovalen Wesen, einen einseitigen Tritt zu verpassen. Zack, zierte ihn ein Wellenmuster. 


Aber noch immer wusste das ovale Wesen, wozu es diese Tortur ertragen musste. Im Grunde hatte es seine Mission bereits erfüllt und konnte sich der nächsten Flut anvertrauen, die es wieder zurücknehmen würde in den Ozean des puren Seins, wo es sich gern zu neuen Aufgaben verwandeln lassen wollte. Nachgeben, Hingabe waren seine tiefste Bestimmung.

Gudrun war perplex. War sie doch davon ausgegangen, einen merkwürdigen Stein fotografiert zu haben. Sie nahm ihr Handy hoch, betrachtete das Foto …

und in diesem Moment … wendete sich das Geschehen und das Meer unterbrach kurz sein Rauschen.

Und der Himmel begann ein neues Spiel auf einem beigegrauen Spielbrett.

Gudrun sah nur noch Rot.

Gundula ging noch ein paar Schritte.

Es war frisch. Maimorgenmunter.

Ein maimorgenmunterer Wind wehte das dunkle Haar vor Gundulas Gesicht, als sie zu Gudrun trat. Ihre rote Jacke leuchtete vor dem Sandbeige, auf dem sie ihre Schritte stoppte.

Gudrun und Gundula.

Kannten sie sich?

In der Ferne ging ein Mann. Er sah wohl zwei Freundinnen, die sich am Strand verabredet hatten. Der Mann lächelte … aber er wusste nichts.

Der Stein, der keiner war, lag im Zentrum der Begegnung.

Er stand im Fokus des Gesprächs zwischen Gudrun und Gundula.


Komisch-nochniegesehen-Stein?-nein-weich-innenundaußen-werdeesherausfinden-jamitgooglelens-späterwennichzurückbin-ahja-wollenwirnichtzusammenweitergehen?

Es war eine nur sehr kurze Gesprächsbrücke, deren Magie zu leuchten begann.

Leuchtendes Rot wendete - warmes Gelb folgte.

Maimorgenmagie spielte ihr Spiel.

Zwei Jacken am Strand.

Graubeige der sandige Spielplan des Himmels.

Rot und gelb die Spielfiguren.

Sie bewegten sich auf der Spielfläche.

Redeten.

Zwei Freundinnen, die auf dieser Spielfläche noch nie als Freundinnen gespielt wurden.

Und das von ihrem höchsten Spieler, diesem maimorgenmüden träumenden Himmel.

 

Der graublaue Ozean stupste den Himmel dort an, wo er am kitzligsten war. An seiner Fußsohle, die der Mensch als Horizont bezeichnet.

„Hey, wach auf, müder Maimorgenhimmel“, rauschte der hellwache Ozean. „Die laufen einfach los. Wie zwei alte Freundinnen. Mach doch mal dein Wolkenauge auf! Ist das in deinem Sinne?“

Der alte maimorgenmüde Himmel öffnete schläfrig sein Wolkenauge. Ein blaues Loch riss auf in seinem aschfahlen grauen Gesicht.

Und dann … hörte er die rote Spielfigur sagen: „Schau mal nach oben!“

Und die gelbe Spielfigur schaute nach oben. Und sie sagte: „Ist ja magisch!“

Das Auge der Magie sahen sie gemeinsam noch nie.

 

Der Himmel zwinkert. Der Himmel weiß. Immer. Alles.

 

„Hier muss ich hoch über die Dünen“, sagte Gundula.

„Und ich gehe am Wasser entlang zurück“, sagte Gudrun.

„War nett“, sagten beide.

„Ich heiße Gudrun“, sagte die Gelbe.

„Und ich Gundula“, sagte die Rote.

Sie umarmten sich und gingen jede ihres Weges.

 

Ein Stein, der keiner war.

Ein Kleieklumpen unter einem Schuh.

Das Harte war weich.

Zwei Fremde.

Ein Gespräch.

Eine Weile.

Zwei Namen, die bleiben.

Gudrun und Gundula.

 

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann chatten sie noch heute …

 

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