Wintergewitwer
Spannung hielt die Luftmoleküle schon seit dem frühen Morgen fest an Ort und Stelle. Schwüle hatte sich schwer auf den Ort gelegt wie eine nasse Wolldecke. Auch zwischen ihnen war die Luft wie kurz vorm Zerreißen, und zwar gleich von dem Moment an, als er ihr seine Haustür geöffnet hatte. Es brauchte nur noch einen Funken, dann …
ein mächtiger Blitz entlud sich am Abendhimmel, der bereit war, der Nacht den ihr zustehenden dunklen Platz abzutreten. Hohe Kräne verbanden noch nicht ganz fertige Häuser mit dem Himmel darüber, so als wären sie riesige Energieleiter, die die Stadt von oben mit Strom versorgten. Sie waren um diese Zeit sicher nicht bemannt. Unvorstellbar, jetzt – bei diesen orkanartigen Sturmböen und den in so kurzen Abständen aufeinanderfolgenden Blitzen!
Er näherte sich ihr einen Schritt weiter, mühsam das linke Bein nachziehend. Er stellte seinen Stock vor sich hin, stützte sich mit beiden Händen darauf und betrachtete sie. Diese erwachsene Frau, die so aufrecht vor dem Fenster kniete und angstfrei die unberechenbaren Mächte der Natur betrachtete. Sie wusste genau, was sie wollte. Sie hatte studiert, ihr Medizinstudium mit summa cum laude abgeschlossen. Sie kannte seine Krankheit: Polyneuropathie.
Und sie wusste, wohin sein Körper sich entwickeln würde. Wusste sie das wirklich?
Am Morgen hatte es schon wieder diese aufreibenden Diskussionen gegeben: „Papa, nun überleg doch mal. In einem Heim ist immer jemand da, der dir helfen kann. Ich kann doch wirklich nicht rund um die Uhr bei dir sein. Sieh das doch ein. Es wird nicht besser, glaub mir das. Ich habe schon genug Menschen mit deiner Krankheit gesehen.“
„Heim, Heim … lass mich doch mit diesem Wort zufrieden. Allein die Idee …! Du musst doch gar nicht ständig bei mir sein. Ich komme doch ganz gut klar. Es geht eben alles langsamer.“
„Ach, es ist doch gar nicht allein das. Ich habe eben im Keller die Wäsche auf der Waschmaschine liegen sehen, deine weißen Achselhemden, deine Schlüpfer. Alles so merkwürdig braun. Wie wäschst du die eigentlich?“
„Lass mich doch in Frieden! Was geht denn dich meine Wäsche an? Ich bin seit Hildes Tod außerdem immer ganz gut allein klargekommen. Und das bleibt auch so, basta! Und wenn du mich wirklich in ein Heim verfrachten willst, dann ist mein Leben zu Ende … ja, genau. Dann ist Schluss!“
Er sprach es aus wie eine Drohung. Doch für den letzten Schritt war er einfach zu feige, das wusste er ganz genau. Nur diese unerträgliche Spannung hatte sich den ganzen Tag über aufrecht gehalten. Äußerlich lief alles wie immer. Es war pure Routine. Sie half ihm beim Waschen seiner Wäsche, kochte Essen vor, das er einfrieren konnte, bezog das Bett neu. Das eine. Nur die Hälfte seines Ehebetts, denn er schlief bereits seit acht Jahren allein darin. Er wusste wohl, dass sie es gut meinte. Aber es war doch sein Leben.
Der Knoten löste sich nicht. Die Fäden seines Gedankenknäuels verwandelten sich in ein Labyrinth mit immer neuen Umwegen.
Könnte ihm doch irgendetwas … irgendeine geniale Idee … wüsste er doch nur … sollte er sich einen Whiskey einschenken?
Ach, allein der Weg zur Hausbar stellte schon eine kaum überwindbare Strecke dar. Diese Stufen zum Wohnraum, die Stolperfalle Teppich. Wie oft er hier schon gestrauchelt war, wollte er ihr lieber gar nicht erzählen. Es sollte sein Geheimnis bleiben, sonst würde sie …
in diesem Moment küssten sich Blitz und Donner in einem gewaltigen Lichtknall.
Er sah, wie sie zusammensackte, als sei sie angeschossen worden. Seine Kleine … er sah, wie sie sich beide Hände schützend über den Kopf hielt. Er ließ seinen Stock fallen, stürzte mehr auf sie zu, als dass er ging und umfing sie fest mit seinen Armen, verwandelte sich selbst in dieses Nest, das sie früher als kleines Mädchen so liebte. Da war sie wieder, seine kleine Gerlinde. Und er war ohne Zögern in seine alte Beschützerrolle geschlüpft, die ihm dieses wunderbare Papagefühl gab.
Es war ein Wintergewitter. Damals, als er von der Arbeit kam und sie ihm im Flur ängstlich entgegenstürzte, sich zwischen seinen Beinen versteckte. Er erinnerte sich noch, wie er mit ihr in das elterliche Schlafzimmer gegangen war, neben der angsteinflößenden dunklen Ecke unter der Dachschräge den Kopf eingezogen hatte, mit ihr in den Erker getreten war, dort am Fenster die Gardine beiseite gezogen und auf den Schornstein der Schokoladenfabrik gedeutet hatte:
„Schau, mein Liebes, das ist unser Schutz. Der Blitz schlägt immer dort zuerst ein, wo die höchste Stelle ist. Du darfst dem Schornstein vertrauen. Das nennt man Physik, weißt du …“
Und jetzt … drückte er Gerlinde fest an sich und sagte:
„Schau, mein Liebes, das ist doch unser Schutz. Die Kräne um uns herum … weißt du noch?“
„Ja, Papa“, sagte sie. „Ich habe gerade den Kakaogeruch wieder in der Nase. Diesen eklig staubigen Kakaogeruch. Tag und Nacht. Die Schokoladenfabrik. Und dann die Sache mit dem Vertrauen. Ja, du hast recht. Ich vertraue dir, Papa. Ich vertraue dir, dass du selber wissen wirst, wann es Zeit für dich ist loszulassen.“
Genau in diesem magischen Augenblick, in den sich die pure Liebe zwischen Vater und Tochter ergoss, begannen die schwarzen Wolken, sich in mächtigen Gardinen zu entleeren. Nicht nur draußen …
© Ulrike Nikolai 2025-07-16
Erläuterung:
Beim "Offenen Schreiben" bekamen wir zum Thema "Sommerliches Schreibgewitter" den Impuls, zu einem ähnlichen Bild wie dem hier abgebildeten tief in uns einzutauchen und eine Geschichte zu schreiben. Die Geschichten waren völlig verschieden und bildeten doch alle zusammen fast eine Einheit. Ein tolles verbindendes Schreiberlebnis!
Kommentare von LeserInnen:
- Du packst ein schwieriges Thema in eine anschaulich erzählte Geschichte. Gewandt verknüpfst du das Gewitter im Kopf deiner Protagonisten mit dem Kuss von Blitz und Donner und tauchst gleichzeitig in die Gefühlswelt der fiktiven Figuren ein. (Silvia P.)
- Mit dem Thema, zu dem du dich hast anregen lassen, bin ich zur Zeit von mehreren Seiten konfrontiert. Und für alle Seiten geht es darum, etwas von sich aufgeben zu müssen. Berührend, wie du beschreibst, wie sich im Gewitter die Spannung zwischen Vater und Tochter gelöst hat! (ratz)
- Ein interessanter Schreibimpuls, Gewitter und Witwer zu einer Geschichte zu verweben. Krankheit, Einsamkeit, Alter, Angst, .... tiefe Emotionen, die sich in deiner Story entladen. Blitz und Donner küssten sich - eine schöne, schaurige Metapher. Schöne Erinnerungen an das Gestern und Zukunftsängste - ein brodelnder Cocktail. (Gabriele K.-A.)
- Zwischen Fantasie und Realität ist diese mächtige Geschichte angesiedelt. Bei dem Versuch, mich da hineinzuversetzen, musste ich aufgeben. Die schwierige Situation, beide wollen was anderes, können nicht, es werden die Probleme nicht gelöst, weil zu heftig, ... es ist teilweise real, oder es könnte so sein, auch wenn zum Schluss ein heller Moment die Situation entschärft. (Anna G.)
- Ein sehr einfühlsamer Text. (Sabine B.)
- Dieser Titel hat es in sich👌👌eine sehr berührende Story. Die Beziehung zu meinem Vater war sehr schwierig. Ich hab sie versucht, in zwei Teile zu fassen: "Mein Vater, eine Spurensuche". (Irene W.)
- Spannungen können durch einen Kuss gelöst werden - das lehrt uns Donner und Blitz - gut gemacht! Bravo! (Christine H.)
- Da ist dir wieder etwas Wunderbares gelungen - einerseits diese Auseinandersetzung mit dem Altwerden und dann dieser Moment, wo das alles nicht mehr wichtig ist, weil nur noch Liebe da ist. (Christine S.-Sch.)
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Liebe/r LeserIn, liebe/r ZuhörerIn, wenn Dir meine Geschichte gefallen hat oder Du etwas dazu sagen möchtest, machst Du mir mit einem Kommentar eine große Freude! Danke im Voraus! 🙏🏻