Wenn ich nicht mehr da bin ...

 

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Da lag es, das Objekt ihres monatelangen Strebens. Mit angehaltener Luft wischte sie vorsichtig den Staub herunter, der sich offensichtlich über viele Jahre auf diesen geheimnisvollen Schatz gelegt hatte. Ein feines rosa Bändchen, das ihr irgendwie bekannt vorkam, das aber etwas Verbotenes ausstrahlte, sicherte dem für sie so kostbaren Konvolut seine quaderförmige Gestalt.

Als sie das Bändchen berührte, zog sie unwillkürlich ihre Hand zurück, denn es machte sich ein sperriges Gefühl aus ihrer Kindheit in ihrem Brustkorb bemerkbar. Verboten. So vieles war damals verboten und die Reihe von Tätigkeiten, die für sie als Kind tabu waren, war endlos. Aber der Stapel, den sie jetzt vor sich liegen sah, hatte heute für sie ein ganz besonderes Gschmäckle.

Sie erinnerte sich an das Spielzeugregal, das sie mit ihrem Bruder geteilt hatte, bis sie beide in der Pubertät ihr eigenes Zimmer bekommen hatten. Das braun lackierte hohe Regal, bei dem sich die Tiefe der Fächer nach oben hin verjüngte, hatte ihr Vater selbst gebaut. Es stand heute noch immer mit dem bunt gestreiften, inzwischen aber völlig verschossenen Vorhang im Keller ihres Elternhauses. Eigentlich hatte sie vermutet, den gerade entdeckten Fund in dem verschlossenen Fach am unteren Ende dieses Regals vorzufinden. Es war mit einer Klappe versehen, die so mit einem langen Scharnierband an dem Regal befestigt war, dass sie sich nach vorn herabsenkte, wenn man den Schlüssel im Schloss gedreht hatte. Doch neulich im Keller hatte sie bei ihrer Suche den Schlüssel nicht finden können, auch nicht in der Blechdose, in der ihre Eltern dieses Riesensammelsurium von Niemand-weiß-mehr-wofür-Schlüsseln aufbewahrt hatten.

Verboten!

Sie hörte im Kopf die scharfe Stimme ihrer Mutter, als ob diese hinter ihr stünde: „Was machst du da? Das geht dich gar nichts an!“

So wie heute vor dem Schlafzimmerschrank ihrer Eltern hatte sie damals vor ihrem Spielzeugregal gekniet, nachdem sie auf einen Stuhl gestiegen und den Schlüssel gegriffen hatte, der rechts im oberen Fach des Regals an einem kleinen Haken hing. Es war der erste Versuch gewesen, bei dem es ihr aufgrund ihres Wachstums gelungen war, an ihn heranzureichen, um endlich zu ergründen, was sich hinter dieser Klappe verbarg. Sie hatte derzeit noch keine Ahnung, dass dieser verbotene Moment sie mit einem unendlich weit entfernten Punkt in ihrer Zukunft verbinden würde, den ihre Mutter ihr im hohen Alter mehrmals geradezu wie auf einem Silbertablett präsentieren sollte:

„Wenn ich mal nicht mehr da bin …“

Als Kind war sie erwischt worden. Ihre Mutter hatte ihr das aus seinem Versteck befreite Päckchen mit dem rosa Bändchen, das sie als Mädchen so spannend fand, aus der Hand gerissen und sie mit bösem Blick von oben herab bestraft: „Was gehen dich unsere Liebesbriefe an?“

Dann hatte sie die Briefe in das Fach zurückgelegt, dieses energisch wieder zugeschlossen und den Schlüssel mitgenommen.

Aber nun … dieses sanfte: „Wenn ich mal nicht mehr da bin …“

Unter Ächzen quälte sich Petra aus der Hocke nach oben, schob die lang von ihren Bügeln herabhängenden Hosen und Röcke ihrer Mutter beiseite, hielt sich mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand die Nase zu, um den Staub der Jahrzehnte nicht einatmen zu müssen. Trotz angehaltenem Atem stieg ihr der so vertraute und doch unangenehme Geruch ihrer Mutter, den die bewegten Kleider ausdünsteten, in die Nase, eine Mischung aus Fertighausmuff der Siebziger und altem Schweiß.

Seit Wochen bewegte sich Petra nun schon unwillig durch dieses Odeur, das Baubiologen als  Chloranisol bezeichnen, ein chemischer Stoff, der sozial toxisch wirkt, da er Abstand zu anderen Menschen schafft, die ihn fast ausnahmslos als Zumutung empfinden.

Wo mag diese Person wohnen? haben Mitmenschen vielleicht schon oft von ihr gedacht, wenn sie aus ihrem Elternhaus kam und vor dem Duschen und dem Anlegen frischer Kleidung zuhause noch andere Stellen anlief. Den Bäcker ums Eck etwa, der die leckeren Käsebrötchen verkaufte, mit denen sie in kürzester Zeit zuhause ihren Hunger würde stillen können.

Erneut ging Petra in die Hocke. Ein kurzes Eintauchen in die Tiefen des Schranks, ein kurzer Griff, und schon hielt sie das Päckchen ihres Begehrens in der Hand, das weit hinten, neben den mit Haaren ihrer Mutter verwobenen Lockenwicklern, der Trockenhaube in müdem Türkis und einem orangeroten Klistier gelegen hatte.

Sie stand wieder auf, schloss die quietschende Tür des ihr so vertrauten Schlafzimmerschranks aus hellem Eschenholz, den ihre Eltern sich als junges Paar lange zusammengespart hatten. Sie legte das ersehnte Bündel in die vergilbte Plastikwanne, die sie vom Dachboden für die Dinge heruntergeholt hatte, die sie nach ihrem wiederholten Besuch des Elternhauses mit nach Hause nehmen würde. Es bedurfte sicher noch vieler Tage, die sie zum Sortieren des Nachlasses brauchte. Aber den heutigen Tag empfand sie wie eine Sternstunde.

„Wenn ich mal nicht mehr da bin ...“

Wie oft hatte ihre Mutter so angefangen.

„Wenn ich mal nicht mehr da bin, dann kannst du all die Briefe lesen.“

Welche Briefe meint sie eigentlich? hatte Petra jedes Mal gedacht.

„Wir haben uns damals so viele Briefe geschrieben, Vati und ich ...“, ergänzte sie einmal und wurde ein wenig verlegen dabei.

Hatte Petra eine leichte Röte auf den Wangen ihrer Mutter aufblühen sehen? Nun endlich hielt sie deren Geheimnis in der Hand. Sollte sie die Briefe wirklich lesen? Die Liebesbriefe ihrer Eltern? Sollten es tatsächlich jene verbotenen Briefe aus ihrem Kinderzimmerregal sein, deren rosa Bändchen in den vergangenen rund 55 Jahren so verblasst war?

Als Petra abends mit der Plastikwanne nach Hause kam, zog sie sich sofort den Briefstapel heraus und legte ihn auf den Küchentisch. Sie hatte Hunger nach der langen Kramerei. Aber sie war zu neugierig auf ihren kostbaren Fund, um ihre Zeit damit zu verplempern, sich ein Essen zu kochen. Ungeduldig zog sie das mitgebrachte Brötchen aus seiner Papiertüte mit der Aufschrift GEBÄCKTRÄGER. Sie amüsierte sich jedes Mal über die kreativen Werbesprüche ihres Lieblingsbäckers. Gierig biss sie in das leckere Käsebrötchen. Hmmm … Hungerlöscher Kohlenhydrate! Die brauchte sie jetzt! Mit dem Brötchen in der Hand setzte sie sich an den Küchentisch, auf dem ihr Fund wartete.

„Wenn ich mal nicht mehr da bin …“

Was sollte Petra erfahren, nachdem ihre Mutter nun nicht mehr da war? Warum wollte sie nicht selbst dabei sein? Petra hatte einen vagen Verdacht.

Sie legte das angebissene Käsebrötchen auf den Tisch, denn sie wollte den nun folgenden feierlichen Akt nicht mit so etwas Profanem wie dem Essen eines Brötchens verknüpfen. Mit unsicheren Fingern löste sie das blassrosa Bändchen. Alle Briefe waren mit lesbaren Stempeln versehen. Nicht nur das genaue Datum, sogar die Stempelzeit war darauf zu erkennen. Sie blätterte die Umschläge mit dem geheimnisvollen Inhalt durch. Ihr Herz klopfte genauso aufgeregt wie damals am Heiligabend, wenn sie als Kind nach stundenlanger Wartezeit das Silberglöckchen bimmeln hörte, mit dem angekündigt wurde, dass gleich die Tür zum Weihnachtszimmer geöffnet würde.

1950 ... weiter … weiter … 1953.

Petra rechnete. 1954. 20. Februar. Plus drei Monate. 20. Mai. Minus ein Jahr. 

Sie blätterte weiter. 21. Mai 1953, 30. Mai, 12. Juni, … weiter … weiter … auf dem nächsten Umschlag stand ein Datum, das passen könnte: 8.8.1953. Zweieinhalb Monate danach. Das sollte wohl genügen.

Mit zittrigen Fingern zog sie den Brief aus seiner vergilbten Hülle. Sie wollte es jetzt wirklich wissen ...

© Ulrike Nikolai – Dezember 2024

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