Elternhaus - adieu!
Du lässt Dir die Geschichte lieber vorlesen? Dann gehe ans Ende des Textes.
Die letzte Mulde ist abgeholt. Das Haus ist leer. Komplett leer. Ein paar Sachen sind noch ins Auto gekommen. Putzzeug, drei Gartenstühle, zwei Böcke, unser Körbchen mit den immer gleichen Dingen, die man halt braucht, wenn man ein Haus noch hier ein wenig und dort ein bisschen auf den Verkauf vorbereitet.
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Nachdem ich vor zwei Wochen die letzte blühende Rose von einem alten Rosenstock im Garten meines Elternhauses abgeschnitten habe, grabe ich ihn heute aus und lege ihn in unseren Wagen. Mal sehen, ob die über viele Jahrzehnte von meiner Mutter gepflegte Rose sich auch bei mir wohlfühlen wird. Ich rede mit ihr … und wenn es nicht klappt und sie mich oft sticht, wird es unsere seelische Beziehung widerspiegeln. “Frau Schwierig” wurde meine Mutter insgeheim genannt. Sogar heute von den Nachbarn, die ich auf der Straße traf und mit denen ich ein sehr nettes Gespräch hatte.
Ein letzter Durchgang durchs Haus:
Im Schlafzimmer steht ein strenger Geruch nach einem Spezialputzmittel, das ein Reinigungsdienst verwendet hat, um das viele Blut zu entfernen, das meine Mutter am letzten Tag ihres Aufenthalts im Haus verloren hat. Ich lasse die Bilder der Blutlachen und Blutspuren los, so wie meine Mutter an jenem Tag das Haus loslassen musste, um noch ein weiteres halbes Jahr im Heim leben zu können. Oder zu müssen? Sie hatte sich immer dagegen gewehrt. Nun betritt sie ihr Haus nie wieder. So wie ich.
In der Küche schließe ich die Augen und sehe meine Mutter vor mir am Küchentisch sitzen. Ich nehme ihren vertrauten Geruch wahr. Sie lebte zum Schluss nur noch in ihrer kleinen Küche. Dort hatte sie alles, was sie brauchte. Den Kühlschrank mit ein paar einfachen Lebensmitteln. Ihren Fernseher, dessen Lautstärke sie voll aufdrehen musste, sodass sie das Telefon und die Haustürklingel nicht mehr hören konnte. Ihre Spülmaschine, die schon lange defekt war und die sie nur zum Abstellen von gebrauchtem Geschirr benutzte, das sie dann im Spülbecken von Hand abwusch. Ihre Funkanlage, die sie zum Schluss nicht mehr bedienen konnte und die im Staub der letzten Jahre erstickte. Ihren Heißwasserkocher für den morgendlichen Kaffee. Den Herd hat sie schon lange nicht mehr benutzt. Ich war froh drum. Denn wegen ihrer zunehmenden Vergesslichkeit hätte ich nicht mehr ruhig schlafen können. Alles war ausgeräumt, nur ihr Geruch, der blieb.
Im komplett leeren Wohnzimmer gibt es nichts mehr zu verabschieden. Der ganze Raum steht mir zwar mit seiner geschmackvollen Einrichtung vor meinem geistigen Auge, darin aber auch die dramatischen Entwicklungen, die ich in meinem Elternhaus erlebt habe. Ich lasse die Jahrzehnte Revue passieren. Gegen Ende werden meine inneren Bilder unschön, immer unangenehmer. Ich möchte den Schmerz nicht wiederaufleben lassen, sondern das Schöne im Gedächtnis bewahren und gehe in den nächsten Raum.
Mein Jugendzimmer. Leer. Und ohne Emotionen wahrgenommen. Ich bin vor 45 Jahren ausgezogen. Ich habe nichts zurückgelassen. Nur ein paar nächtliche Seelendramen, die sich auf der anderen Seite der Tür abspielten. Ich spüre noch einmal kurz dem Gefühl nach, das ich damals hatte. Mit Decke über dem Kopf und Finger in den Ohren. Adieu …
Die Essdiele, wo die angenehmsten Stunden aus meiner Erinnerung aufsteigen. Hier haben wir zusammen gesessen. Wir vier. Mein Vater, meine Mutter, mein Mann und ich. Hier wurden Neuigkeiten ausgetauscht, Bilder gezeigt, von den Nachbarn erzählt und vieles mehr. Ich gehe weiter.
In den Garten. Ganz das Reich meiner Mutter. 1972 mit einem Wunderreich an Blumen ausgestattet, die nun alle – bis auf eine Rose – verschwunden sind. Die Büsche haben gewonnen.
Adieu Haus … lebe nun wohl mit jungen Menschen!
1971
Als ich die Haustür hinter mir zuziehe, setze ich mich auf das Treppchen davor, auf dem ich auch vor 50 Jahren saß und den Blick zur Ringstraße schweifen ließ, wo damals der orangerote Sonnenball hinter dem Horizont verschwand. Heute sehe ich nur Häuser vor mir. Der Horizont ist schon lange verschwunden.Mein Blick wandert zu den anderen Häusern an der kurzen Sackgasse. Alle Bewohner haben damals zur gleichen Zeit gebaut. Lächeln muss ich, weil mir einfällt, dass die Hausherren der drei Häuser auf der anderen Straßenseite alle den gleichen Vornamen trugen. Alle drei sind inzwischen statt auf der anderen Straßenseite vereint auf der anderen Seite des Seins. Wie schnell ist die Zeit vergangen. Ich sitze nun selbst auf der Schwelle ins Alter. Vier Witwen leben noch in ihren Häusern, alle in hohem Alter, eher mehr als weniger vergesslich. Meine Mutter war die fünfte und träumte immer davon, noch viel älter zu werden. Sie ging als Erste. Kein einziger Hausherr dieser kleinen Siedlungsstraße weilt noch unter den Lebenden.
Es ist genau 50 Jahre her, dass ich mit meinen Eltern und
meinem Bruder hier einzog. Heute, an diesem Tag des Abschieds. Es fügt sich
alles wunderbar! Die Erinnerungen bleiben nicht hier, denn den Menschen, die
hier einziehen, sind sie fremd. Die Erinnerungen ziehen mit. Zu mir.
Überallhin, wo ich mich jemals aufhalten werde. Bis ich mich zu meinen Eltern
ins Licht begebe und auch meine Erinnerungen den irdischen Plan verlassen. Nur
in meinen Geschichten dürfen sie auch dann noch - in fremden Bildern allerdings
- noch eine Weile fortleben.
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