Imagination

 

➡️Zur Hörversion

Raspelraspelraspel … als gäbe es kein Morgen. Raspelraspelraspel. Das Angebot war riesig. Unüberschaubar. Argynnis wuchs und wuchs. Schlaraffenland umfing sie. Es schmeckte. Einfach. Lecker.

Nachts ruhte sie in dem Wissen, dass auch morgen ihre Lieblingspflanzen wieder ein Stück weiter gewachsen sein würden. Blatt für Blatt. Millimeter für Millimeter. Wilde Veilchen, Ackerstiefmütterchen … sie hatte die große Auswahl. Sie war dankbar für das reichhaltige Angebot der Natur.

Dachte sie darüber nach? Nein.

Machte sie etwas falsch? Nein.

Hätte sie nicht vorsorgen sollen? Nein.

Denn die Natur hat Fülle im Übermaß.

So fraß sie weiter.

 

Doch ohne zu wissen warum, fühlte sie sich eines Morgens etwas merkwürdig. Sie hatte keinen Appetit mehr, in ihrem Verdauungssystem kam alles zum Stocken. Sie mochte nicht mehr herumkriechen und nach Nahrung schauen. Müde legte sie sich zwischen die dichten Grashalme einer Wiese. Aus ihrem Hinterteil ließ sie einen Faden hervorgleiten, den sie an einem Grashalm am Wiesengrund befestigte. Sie brauchte Halt. Ihre Haut fand sie unerträglich eng. Sie räkelte und streckte sich und … schwupps … platzte die enge Haut auf und blieb unter ihr liegen.

Das, was vorher eine Raupe war, hatte sich nun in eine neue Gestalt verwandelt und wollte darin nicht gestört werden. Ihre neue graubraune Haut härtete aus. Für Vorbeikommende sah sie aus wie ein kleines Stückchen Holz.

 

In der kommenden Nacht träumte die einstmalige Raupe einen merkwürdigen Traum:

Vor sich sah sie eine große Silberkugel mit einer Tür ins Innere, die sich wie von Zauberhand öffnete. Argynnis konnte in die Kugel hineinschauen, doch war nichts zu erkennen, denn aus dem Innenraum strömte pures goldenes Licht. Das machte Argynnis neugierig, war sie es doch gewohnt, sich ohne Umschweife an allem zu bedienen, was sich ihr anbot. Also trat sie gespannt über die Schwelle, direkt hinein in das goldene Licht. Dann geschah etwas Schreckliches. Die Tür schloss sich hinter ihr und das goldene Licht entpuppte sich als ein heißes Läuterungsfeuer. Nun war es zu spät. Ein Zurück gab es nicht mehr.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich dem Prozess, der sich nun in Gang setzte, anzuvertrauen. In ihrem Körper spürte sie Auflösungen, Neu-BILD-ungen, Um-BILD-ungen. BILD-er träumte sie. Sie IMAG-inierte, was einmal aus ihr werden könnte, doch zugleich hatte sie Angst. Wird es sehr schmerzhaft sein? Wird es sehr schlimm werden, bis es so weit ist? Wann wird es soweit sein? Komme ich wieder in die Freiheit?

Und auch im Traum fühlte Argynnis wieder die ihr schon so bekannte Enge. Es geschah einfach. Sie musste nichts dazu tun, um sich zu verwandeln. Sie bewegte sich einige Male in der Enge der Silberkugel, die sie inzwischen vollends ausfüllte, was die Kugel zum Platzen brachte. Nun endlich fühlte Argynnis sich wieder frei, pumpte Lymphe in ihre Flügel, die sie nun hatte und …

begann zu fliegen!

 

 

Argynnis aglaja ist der große Perlmuttfalter 

 

 Auf einem Kurzgeschichtenportal (Story.One) ergab sich nach dieser Geschichte folgender Diskurs:

  •  Liebe Ulrike, so eine schöne Geschichte, die du virtuos mit Traumbildern füllst🥰👍 (Silvia P.)
  •  Zerfallen und sich neu zusammensetzen, das wäre auch für uns Menschen was! ... :-) (Anna G.)
  •  Ich empfinde die derzeitige Entwicklung der Menschheit tatsächlich so. Die Raupe weiß ja auch nicht, wohin es geht. Ihre Zellen wandeln sich um, insbesondere die sogenannten Imagozellen, die sich umstrukturieren zu neuen Organen und Körperteilen des Schmetterlings. Ein allgemeingültiges Gesetz der Evolution. Und so lange die neuen Strukturen sich nicht abzeichnen, fühlen wir uns kollektiv wie Wackelpudding. (ich)
  •  Ein Wunder geschieht, unsichtbar vor unseren Augen. (Irene W.)
  •  Ja, ein Wunder ... weil wir die eingebauten Vorgänge, die Naturgesetze nicht beeinflussen können und sie einfach so geschehen. Tag für Tag! (ich)
  •  Vom gefräßigen Engerling zum Maikäfer! (Philip)
  •  Eine zauberhafte Geschichte, die auch noch sehr lehrreich ist. Wunderbar! (Sabine B.)
  •  ✨🐛🦋 Danke, liebe Ulrike. Nun grüble ich wieder viel zu viel. (Elisabeth-Chr. K.)
  •  Erinnert mich an die Raupe Nimmersatt, die sich zum Schmetterling verwandelt. Ein Endprodukt entsteht. In deiner Geschichte ist anfangs die Vorstellung (der Entwurf, der Traum) und danach erfolgen die Schritte. Was daraus wird, unterliegt verschiedenen Einflüssen, die die Person begrenzt steuern kann. Auch die Zeit wandelt sich. (Magorie)
  •  Wenn wir uns die Menschheit als an der Erde fressende Raupe betrachten, können wir dieses Verhalten auch dem Menschen zuordnen. Über all dem gilt immer das Gesetz des Wandels. Egal, ob mit oder ohne Kampf. Sicher nicht durch Vernunft, denn die ist eben nicht ALLEN zueigen. Und wohin soll sie uns führen? Zurück, zurück, zurück? Doch wohin zurück? Gewachsen ist die Menschheitsraupe im Laufe der letzten Jahrzehnte auch grenzenlos. Als ich selbst noch Schülerin war, war die Bevölkerungsexplosion noch ein ernstes Thema. Bezüglich der Ressourcenverschwendung und der Mäßigung wird dieser Aspekt heute kaum mal betrachtet. Da bringt es auch nicht viel, wenn die einzelne Zelle (der einzelne Mensch) sich mäßigt. Und doch zieht hier und da Besinnung ein und Menschen schließen sich zusammen zu etwas Neuem, von dem sie noch kein genaues Bild haben. Wir sitzen gerade tief in unserem kollektiven Kokon und brutzeln vor uns hin. Dabei verwandeln die Imago-Zellen das alte Wesen in etwas völlig Anderes. So wie bei der Raupe, die nicht weiß, wie ihr geschieht. Der Vorgang ist der Natur eingeschrieben. Er läuft ab. Ja, es macht nachdenklich ... ist Evolution im Großen vielleicht genau derselbe Prozess, den wir bei der Metamorphose von Ei, Larve, Schmetterling beobachten können? Hermes Trismegistos ... die hermetischen Gesetze: Wie im Kleinen, so im Großen. ES läuft ab ... und Neues entwickelt sich. (ich)
  •  Ist ein interessantes Thema. Der Wandel unterliegt den Gesetzen der Natur und muss sich immer wieder anpassen. Dann bin ich auf den Wandel gespannt. (Magorie)
  •  Im Jahr 2002 schrieb ich folgendes Gedicht: 

Der All-Chimist 

Das Äußere geht vorüber.

Es ist dem Wandel unterworfen. 

Doch ewig bleibt der Wandel. 

Er ist das Gold, das nie vergeht. 

In ihm liegt das Glück. 

Mit den Augen sehen wir nur schäbig sich verfärbendes Blei. 

Doch das Gold, das sehen wir nur mit dem Herzen. 

Finde dieses Gold - es ist dein Glück.

© Ulrike Nikolai 6.2.2002

  • Eine fesselnde Story, die ich sehr gern gelesen habe. Und ich dachte erst an eine Schnecke! 😃 (Anatolie) 
  •  😂 Schnecken ... sterben wohl eher ungeläutert. Sie machen kein Larven- = Fressstadium durch wie eine Raupe, die als Larve aus einem Ei schlüpft. Bei den Schnecken kommt bereits aus dem Ei das fertige Lebewesen, das danach von der winzigen Schnecke zur großen Schnecke heranwächst, aber ohne weiteres Zwischenstadium. Wir Menschen entwickeln uns ebenso. Aus dem befruchteten Ei wird das wachsende Lebewesen, das halt nur noch im Schutz des Mutterleibs bleibt, bis es atmen kann. Es ist interessant, all diese verschiedenen Entwicklungsstadien von Lebewesen miteinander zu vergleichen. Meine Geschichte kann auch verstanden werden als Sinnbild für Lebenskrisen, in denen man sich durch Rückzug ins Innere und durch Vertrauen auf eine umgestaltende Kraft in sich in eine neue Phase hineinverwandelt. (ich)
  •  Ja, wir Menschen sind ein "gefräßiges" Völkchen. Was wird wohl aus uns werden????? (Gabriele K.-A.)
  •  Vielleicht sitzen wir schon längst in der Silberkugel mit dem goldenen Läuterungsfeuer, das uns verwandelt. Die Erde kocht ... sagen manche. Sie habe Fieber. 🤔 (ich)
  •  Du hast sehr eindrücklich von Wandlung erzählt. Das ist ja auch für Menschen eine Frage, wie wir zur Freiheit des Fliegens kommen. (Theodor L.)
  •  Eine gute Frage: Wie kommen wir Menschen zur Freiheit des Fliegens? Indem wir uns vor dem Anderen verbeugen statt ihn zu bekämpfen? Diese Form des Miteinanders im Verschiedensein praktizieren wir derzeit besonders in der Schreibgruppe, die ich wöchentlich besuche. Respekt, Wertschätzung, die Freiheit hervorzutreten oder sich zurückzuziehen, je nach Bedarf. Ohne Verurteilung. Es funktioniert! Und es be*FLÜGEL*t die Seele! (ich)

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Gebet an die Ahnen

Das heilende Lachen

Wenn ich nicht mehr da bin ...