Ein besonderer Himmelsgang
Eine große Pfingstreise
Sie wollte nie hier sein.
“Wenn ihr mich in ein Heim steckt, dann sterbe ich bald.”
Das hatte sie viele Male angekündigt. Sie hatte wohl gehofft, eines Tages in ihrem Haus einfach einzuschlafen. Dies war ihr geheimer Wunsch. Und er wäre auch fast in Erfüllung gegangen. Doch der Zufall fuhr mit unerbittlicher Strenge dazwischen. Alles verlief nach ihrem Wunsch. Sie kaufte ein. Allein. Sie holte ihr Geld von der Sparkasse. Allein. Sie suchte ihren Zahnarzt am anderen Ende der Stadt. Allein. Sie kam nie dort an, fand aber immer den Weg zurück. Sie konnte doch alles allein. Alles alles!
Doch ihre Angst war groß. Ihre Angst vor Veränderung. Sie wollte nicht ins Heim. Doch das Leben lebt. Es folgt den tief in der Seele versteckten Wünschen der Menschen. NICHT ins Heim! Das Wort “nicht” ist dem Leben unbekannt. Denn das Leben lebt. IMMER!
Sie verlor ihren Haustürschlüssel. Nach dem Einkaufen fand sie ihn nicht mehr. Sie kam nicht mehr ins Haus. Da stand sie nun vor der Tür. Allein. Was tun? Aufregung eroberte ihren Körper, kroch in jede ihrer Zellen. Was tun? Niemand hatte einen Schlüssel. Viele Male hatte sie abgelehnt, einen Schlüssel bei jemand anders zu hinterlegen. Was tun? Sie zitterte. Angst überfiel sie. Warf sie fast um. Was tun?
Sie überwand ihre Ablehnung gegenüber ihrer Nachbarin. Sie drückte zaghaft auf den Klingelknopf. Ihre Nachbarin war nett, bat sie herein. Hilfe? War nicht zu erwarten. Die Nachbarin war dement und wusste keinen Rat. Erst viele Stunden später kam der Sohn ihrer Nachbarin von der Arbeit nach Hause. Der bestellte einen Schlüsseldienst. Das Problem war schnell gelöst. Nun war sie wieder allein. Allein! Niemand wusste, wie es ihr nach der Aufregung ging. Ihr Wunsch war kurz davor, sich zu erfüllen.
Zwei Tage später rief ihr Sohn bei ihr an. Sie redete durcheinander. „Die haben da alles vollgemacht. Das klebt überall. Ich kann nicht mehr ins Bett. Ich liege hier auf dem Teppich.“ Bei ihrem Sohn schrillten die Alarmglocken. “Mutti, leg auf, ich hole sofort Hilfe!” – “Nein, das tust du nicht …”, hörte er sie noch zetern, legte sofort auf und telefonierte …
Großeinsatz: Rettungsdienst für den Menschen, Feuerwehr zum Öffnen der Tür, Polizei für die Ordnung.
Sie wurde gerettet. In der letzten Minute. Sie lag in einer riesigen Blutlache auf dem Fußboden. Sie kam ins Krankenhaus. Für eine Woche, dann musste ihre Station geschlossen werden. Wegen eines Coronafalls. Und die alte Frau? Nach Hause? Undenkbar bei ihrer Schwäche. Also fand man für sie den letzten Kurzzeitpflegeplatz in der Stadt. Welch ein Glück! dachten ihre Kinder.
Und wie ging es ihr damit? Sie wurde Dauerbewohnerin.
Ihre Kinder erinnerten sich an den Satz ihrer Mutter: „Wenn ihr mich in ein Heim steckt, dann sterbe ich bald.”
Ein halbes Jahr später…
“Noch eins … zwei … drei … dann … ja, isso … das macht der
Himmel.“ Das sagte sie. Mehrmals. Alle sagten, sie sei dement. Aber sie wusste ...
Zwei Wochen später wachte sie morgens einfach nicht mehr auf. Es war Pfingsten …
Ihre Kinder hörten an diesem Morgen die Vögel singen … wie immer.
Und ihre Tochter erinnerte sich, was sie ihr vor gar nicht so langer Zeit verraten hatte: "Das kann ich Dir versichern. Du kamst für uns zwar zu früh. Wir waren ja noch nicht verheiratet. Aber du warst ein Kind der Liebe. Es passierte zu Pfingsten ... *kicherkicher* "
Ob sie wohl daran dachte? In dem Moment, als sie ihre Reise zum Himmelstor antrat? Zu Pfingsten im Jahr 2021? Als der Heilige Geist uns über dieses Fest endlich seelisch wieder ganz nah zusammenführte?
Ein Leser kommentierte:
Sehr einfühlsam und liebevoll erzählt. Das kann ich mir vorstellen, dass es für Euch sehr schwierig war, dass Eure Mutter alles allein machen wollte. Ich kenne das von manchen Menschen, dass sie anderen, dann manchmal vor allem ihren eigenen Kindern, "nicht zur Last fallen wollen". Nicht immer - aber oft - steckt die Angst dahinter, seine Eigenständigkeit oder auch die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Ein bisschen kann ich das verstehen. Aber wir brauchen ja alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise Hilfe und Unterstützung durch andere Menschen. Und wir haben auch das Recht, um Hilfe zu bitten, wenn es nötig ist. Dass Eure Mutter dann gerade an Pfingsten hat einschlafen dürfen, das war wohl ein "Geschenk".
Bild zum Text (ganz oben) von Birgit auf Pixabay.
Und nun suche Dir ein gemütliches Plätzchen zum Zuhören. Du solltest Dir etwa 9 Minuten Zeit nehmen:
Folgende Fotos, die im Film verwendet wurden, stammen von Pixabay:
Pfingstrose: Bild von B. Schmidt auf Pixaba
Sonnenfeuer: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Jesus und seine Jünger: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Frau im Heim: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Verwirrtes Gehirn: Bild von Gordon Johnson auf Pixabay
Schlüsselbund: Bild von Ralph auf Pixabay
Frau Treppe: Bild von Vicki Nunn auf Pixabay
Fear: Bild von John Hain auf Pixabay
Boot: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Puzzle: Bild von Rupert Kittinger-Sereinig auf Pixabay
Alarm: Bild von Sarah Richter auf Pixabay
Friedenstaube: Bild von Joe auf Pixabay
Rote Rose: Bild von Goran Horvat auf Pixabay
Gänsehaut, liebe Ulrike.
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