Frau Kieselherrs Räuberpistolen

 

  

Zuerst die kleine Lesung

 



Die kleine Lesung

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Wer lieber den Text selbst lesen möchte, kann dies hier tun:


 

Frau Kieselherrs Räuberpistolen

Warum nur musste ich so weit vorne sitzen? Dieses Bild von dem rosa Liebestöter mit der Sicherheitsnadel an der kaputten Beinnaht lässt mich mein Leben lang nicht mehr los. Das soll es auch gar nicht, denn es lässt mich heute etwas aufhängen. Nein, nicht den Liebestöter, sondern meine Geschichte an demselben.

Wenn gerade eine Mathearbeit geschrieben war und die verbleibende Unterrichtszeit bis zur nächsten noch locker zur Verfügung stand, stand die Laune unserer Lehrerin zum Besten, was sich dadurch bemerkbar machte, dass sie sich mit ihrem breiten Popo auf das Lehrerpult schwang, sich selbst gemütlich darauf zurechtruckelte und dann verkündete: „Heute gibt’s zuerst mal wieder ’ne Räuberpistole!“

Dann schaute sie grinsend in die Runde und legte dabei ihre Zahnlücke bloß, durch die sie die erste Schülerinnenreihe mit Spucke beregnete.

„Also meine Lieben, heute werde ich euch mal erzählen, wozu man Geometrie braucht. Ihr lernt ja nicht für die Schule, sondern fürs Leben.“ Sie griff sich unter den Rock, um das rosa Angorawollmonstrum bis an die Knie zu zerren: „Meine Damen, man kann sich so leicht die Blase erkälten, zieht euch nur ordentliche Unterwäsche an!“ Dann schwärmte sie von ihren Nähkünsten. Sie trug nur selbstgenähte Kleider. „Und dazu, meine Lieben, braucht ihr einen Zirkel. Seht mal, wenn ich nicht wüsste, wie man mit einem Zirkel umgeht, dann könnte ich mir keine anständigen Armlöcher zuschneiden.“

Das sieht man, dachte ich im darauf folgenden Sommer, als ich meinen Blick nicht mehr lassen konnte von ihren nach vorne viel zu groß zugeschnittenen Armlöchern, die immer den beschränkten Farbreigen ihrer BHs offenbarten: Haut, Rosa, bestenfalls mal Pastellgrün. Ob mich das wohl prägte und mich seitdem bei der Auswahl meiner eigenen Unterwäsche um genau diese Farben einen großen Bogen machen lässt?

Mich hatte sie mental voll im Griff, diese Lehrerin, die ich zugleich bewunderte und nicht selten abgrundtief hasste. Dabei meinte sie es doch nur gut mit mir. Die Notenstatistik meiner Mathematikarbeiten glich dem Rand ihrer Zickzackschere. Sie schwankten von „sehr gut“ bis „ungenügend“, je nachdem, ob sie mich bei der Arbeit beobachtet hatte oder nicht. Wenn sie mit meinem Lineal plötzlich heimlich auf mein Heft pochte, weil sie einen dummen Rechenfehler entdeckt hatte, dann war es aus mit meinen mathematischen Künsten. Wie nett von ihr! Aber für mich ein Desaster! Sie hatte einen Fehler gesehen – in meiner Gegenwart. Aus die Maus! Ich konnte plötzlich gar nicht mehr rechnen, verbiss mich in die Aufgabe und wurde nicht fertig. Dann kam sie wieder vorbei, sah mich freundlich an, gar aufmunternd, was bei mir das Tränentor öffnete. „Ich wüsste für dich einen tollen Beruf“, sagte sie noch dazu laut in die Klasse. „Du kannst ja auf Kommando anfangen zu weinen. Ich finde, du könntest wirklich Schauspielerin werden.“ Vielleicht aber war es IHRE Kunst, mich an- und abzustellen. Es war jedenfalls nicht ihre einzige.

 

💫

 

„Ulrike … was machst du da unterm Tisch?” Huch! Ich zuckte zusammen. Wie konnte sie das gesehen haben? Sie schrieb doch die ganze Zeit an der Tafel. Frau Kieselherr drehte flugs den Kopf nach hinten und erklärte sogleich, sie habe die Fähigkeiten einer Eule, allerdings ohne den Kopf drehen zu müssen. „Eine Lehrerin“, so erklärte sie selbstbewusst, „kann auch sehen, was hinter ihr geschieht.” Ich stutzte. Auch sie hatte hinten keine Augen. Und ins Haar eingewirkte Minikameras – nein, so etwas gab es damals noch nicht. Selbst in unseren Träumen nicht. Frau Kieselherr drehte sich vollends um, stapfte zum Pult und hievte sich mit ihrem breiten Popo mal wieder umständlich auf dessen Oberfläche, nachdem sie den Kreidestaub mit ihrer Handkante weggewischt und von dort in die Luft gepustet hatte.

Wieder eine Räuberpistole? dachte ich und war gespannt auf das, was nun kommen würde. Frau Kieselherr ruckelte sich ein. „Also, nun …“. Sie schaute schräg unter die Decke, überlegte einen Moment und zeigte dann mit dem Finger auf mich. „Wie ihr eben am Beispiel von Ulrike sehen konntet, habe ich den für Lehrer so wichtigen Rundumblick. Das könnt ihr euch mal merken.“ Nun wird sie es erklären, dachte ich. Es war mir schon peinlich genug, dass sie mich auf dem Kieker hatte. Ich hatte nämlich tatsächlich unter dem Tisch gekramt, wollte mir heimlich eine Tüte Lakritz öffnen und mir ein paar Salmiakpastillen in die Wange stecken. Nix da! Frau Allwissend ist auch allsehend!

„Unser Gehirn lässt sich zu den unglaublichsten Fähigkeiten trainieren. Alles findet nämlich dort statt, alles. Das Gehirn ist die Schaltzentrale unseres Körpers. Und der ganze Körper spielt das Spielchen mit.“

Mein Blick klebte an ihrem Mund, an ihrer breiten Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen, mein Ohr war auf höchste Empfangsstufe gepegelt. Was sollte das jetzt? Was hatte das mit meiner Kramerei unter dem Tisch zu tun? Und was – bitte – mit der Mathematikstunde?

„Unsere Augen sind Wunderwerke der Technik, die aber nicht ohne das Gehirn sehen könnten. Ihr wisst doch, dass ihr alles auf dem Kopf seht, ja?”

AUF dem Kopf? Sie meinte wohl HINTER dem Kopf. Ich schüttelte derweil den meinen und verstand nicht, worauf sie hinaus wollte.

„Wir bewegen uns nun in den Bereich der Physik“, setzte sie erneut an. „Und dort in den Bereich der Optik.“ Ah, dachte ich, jetzt haben wir Physik. Auch dieses Fach unterrichtete sie nämlich in unserer Klasse. „In euren Augen, das wisst ihr ja sicher, habt ihr optische Linsen, die die ganze Welt, die vor euch liegt, auf den Kopf stellen. Und das Gehirn dreht das Bild wieder um. Und jetzt muss ich euch mal von einem Selbstexperiment erzählen.“

Ich rieb in Gedanken die Hände. Eine neue Räuberpistole, dachte ich. Ich liebte ihre Räuberpistolen. Vor allem, wenn gerade mal wieder eine kaum nachvollziehbare mathematische Beweisführung von ihr an der Tafel entwickelt wurde. Voraussetzung, Behauptung, Beweis … ein Labyrinth von Schlussfolgerungen.

 

💫 

 

„Beatrix, nimm bitte den Bleistift aus dem Mund. Zuhören ist auch ohne Kauen möglich.” Während sie das sagte, hatte Frau Kieselherr nicht einmal den Kopf zur Seite bewegt. Das brachte mich immer wieder zum Staunen. Beatrix saß nämlich am äußersten linken Rand der Klasse, während das Pult ganz rechts stand. Was für einen Sichtbereich deckte diese Frau nur mit ihren Augen ab? Oder waren es ihre Ohren, die ihr – wie bei einer blinden Person – dabei Schützenhilfe leisteten?

“Diesen Selbstversuch … nun, den habe ich mir mal ausgedacht, weil ich wissen wollte, wie das Gehirn arbeitet.”

Es war mucksmäuschenstill in der Klasse. Frau Kieselherrs private Umtriebe – das wussten wir aus früheren Räuberpistolen – offenbarten die skurrilsten Phänomene.

„Ich ging zum Optiker und fragte nach einer Möglichkeit, eine Brille so anzufertigen, dass ich die Welt auf dem Kopf sehen kann. Der Optiker überlegte. Er habe schon mal solche Brillen gesehen, sagte er. Man nenne sie Umkehrbrille. Die könne man auch selber bauen. Er besorgte mir Prismen und einen Spiegel und stand mir beim Bau der Brille mit Rat und Tat zur Seite. Dann begann mein Experiment. Natürlich brauchte ich dazu ein paar freie Tage. Ich wählte die Sommerferien.”

Wieso ein PAAR Tage, dachte ich und folgte ihrer Schilderung mit großer Neugier.

“Meine Augen sahen ab dem Moment, in dem ich die Brille aufsetzte, alles auf dem Kopf. Ich wollte in die Küche gehen, mir einen Kaffee kochen, aber schon beim ersten Schritt hatte ich das Gefühl, ich falle gleich um. Ich hab‘ die Brille wieder abgesetzt und mir einen Stock geholt. Außerdem hab‘ ich alles weggestellt, was auf dem Weg vor mir lag oder stand. Stühle, meinen Zeitungsständer, auch die Fußmatte. Dann fing ich wieder von vorne an. Mir wurde nach kurzer Zeit schlecht. So schlecht, dass ich mich fast übergeben hätte. Aber ich hielt durch. Es war schlimmer, als wäre ich blind gewesen. Dann, so nach etwa drei Tagen, ging es besser. Nach sechs Tagen hatte ich mich schon so dran gewöhnt, dass ich kaum noch das Gefühl hatte, ich sähe alles auf dem Kopf. MEIN Bild war richtig herum! Ich traute mich auf die Straße, zuerst nur auf den Gehweg. Es ging tadellos. Mein Gehirn hatte das verdrehte Bild wieder aufgerichtet. Ja, das ist jetzt nicht nur Physik, das ist auch Biologie.“

Wir wurden unruhig … und stellten Fragen. Beste Lernmotivation! Wenn Schüler sich interessieren. „Und? Haben Sie sich mal übergeben?“ – „Na ja, einmal ist es mir schon hochgekommen, aber da habe ich die Brille nochmal kurz abgesetzt und dabei gemerkt, dass das gar nichts half. Also Zähne zusammen und durch!“ – „Und wie lange brauchten Sie zurück, als Sie die Brille nicht mehr getragen haben?“ – „Das ging viel schneller. Als ob das Gehirn die längere Erfahrung so gespeichert hat, dass ich sie schnell wieder abrufen konnte.“

Ich war schwer beeindruckt, hatte meine Salmiakpastillen unterm Tisch völlig vergessen. Selbst ausprobieren mochte ich es nicht. Mir reichte die geschilderte Übelkeit.

 

💫 

 

Frau Kieselherrs Räuberpistolen waren kleine Intermezzi. Sie füllten den Raum mit Gemütlichkeit. Doch irgendwann waren sie vorbei. Ein entschlossenes „So!“ kündigte ihr Ende an, dann rutschte der breite Popo hin und her, ein Stückchen nach vorne, bis der Abstand zwischen grauen Pumps und grünlichem Linoleum als ungefährlich eingestuft wurde. Ungefährlich genug, um sich mit einem inneren Schubs schwer auf die Schuhsohlen fallen zu lassen. Noch ein, zwei Handstriche über den verrutschten Rock, eine Wende, ein paar Schritte und schon stand Frau Kieselherr wieder vor der Tafel.

„Wo waren wir stehengeblieben? Ach so … wir waren gerade an der Stelle, an der zu beweisen war, dass die Behauptung widerlegen bewies gegen Beispiel Stichprobe a ke on ek …“ Salat. Nur noch Salat im Kopf. Klangsalat aus menschlichen Lauten. Ich fühlte mich schrecklich. Wo stand nochmal die Annahme? Ich WOLLTE es ja verstehen. Aber es ging so schnell, dass ich an einer frühen Stelle bereits den Anschlusszug verpasst hatte. Und der sauste nun immer weiter in die Ferne. Ich schaute mich um. Wie ging es den anderen? „Ulrike – folgst du meinen Ausführungen?“ Schon wieder hatte sie mich erwischt. Und dieses Mal hatte ich kein verdächtiges Geräusch erzeugt, das mich hätte verraten können. Sie musste GENAU in dem Augenblick kurz nach hinten gesehen haben, als ich mich umgedreht hatte.

„Die hat das im Urin. Ich find’s irre!“, meinte nach Ende der Stunde meine Sitznachbarin. „Aber die wird im Leben nicht verraten, wie sie das macht.“ Sie verriet es auch nicht. Niemals!

Etwa 20 Jahre später – ich hatte mein Abizeugnis längst eingesackt, nachdem ich mich durch Beweisführungen, Kurvendiskussionen und Wahrscheinlichkeitsrechnung hindurchgekämpft hatte – waren wir zu einem ersten Klassentreffen nach dem Abitur verabredet. Auch unsere langjährigen Lehrkräfte waren eingeladen. „Hat Frau Kieselherr auch zugesagt?“, fragte ich meine Mitschülerin, die das Treffen organisiert hatte. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen. „Ich glaub‘ schon“, meinte Angela. Ich freute mich. Ja wirklich, ich freute mich auf diese Person, die ich immer zutiefst bewundert hatte.

Endlich war der Tag gekommen. Wir saßen im Gesellschaftsraum eines Hotels und hatten uns schon etwas zu trinken bestellt, als Frau Kieselherr den Raum betrat. Pelzjacke, Pelzmütze. Klein aber oho! Wie immer … mit festem Schritt, der den Boden zum Erschüttern brachte, mit freundlichem Lächeln, als sie sich je einer Mitschülerin zuwandte und sie freudig begrüßte. Sie wusste noch alle Namen! Dann steuerte sie auf den Stuhl neben mir zu. „Ach jaaa, Ulrike!“ Sie setzte sich. Neben mich! Ihre Schülerin, die unter anderem Mathematik studierte und Lehrerin wurde! „Warum auch nicht?“, meinte sie. „Sie waren gut in Mathe. Sie haben sich nur immer so leicht ins Bockshorn jagen lassen.“ Über den Rundumblick sprachen wir nicht. Ich konnte ihn inzwischen selbst. Und auch ich verrate mein Geheimnis nicht. NIEMALS!

© Ulrike Nikolai 2021-11-03

 

 

➡ An dieser Stelle möchte ich zum Phänomen der Umkehrbrille einen Tipp geben. Es gibt einen Stummfilm dazu. Er wurde 1950 gedreht. Den Link darf man möglicherweise nicht verbreiten, aber ich denke, man wird ihn finden bei Eingabe seines Titels in eine Suchmaschine. Er heißt: "Die Umkehrbrille und das aufrechte Sehen". Sehr beeindruckend!

 

Ein paar ausgewählte Kommentare von Lesern und Leserinnen dieser Geschichte:

  • Über den Zusammenhang von Zirkel und BH-Farbe habe ich bisher auch noch nichts gewusst. Was die Lehrerin Euch doch für praktische Dinge beigebracht hat. (T. L.)
  • Sehr lebendig erzählt, als ob ein Film ablaufen würde ... schon interessant, was Kinderaugen alles im Blick haben ... (S. M. W.)
  • Schöne Geschichte, so lebendig. Und die Lehrperson muss grauslig gewesen sein (für mich jedenfalls nach Deiner Schilderung), allein der wollenen Unterhosen wegen, die Ihr sehen konntet😎 (B. R.)
  • Ja, die besten Lehrer sind ja doch die Originale! Ich fürchte, sie sterben langsam aus! Ganz köstlich geschildert! Und ja, das gehört sich wirklich nicht, ein Berufsgeheimnis auszuplaudern! Deine Lehrergeschichten sind wirklich sehr vergnüglich. Ich vermute, dass du auch deinen Unterricht mit so mancher Räuberpistole unterbrochen hast.(W. R.)
  • Ich kenne das! Das ist ein Scannen, blitzschnell, damit alle bei der Aufmerksamkeit bleiben. Lehrer wirken dann so dominant, so konstant, sicher, so alles überblickend. (A. G.)

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