Magie zwischen Himmel und Erde

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Stillstand.
Mitten im Gehen.

Ein leiser Widerstand unter meinen Füßen, Ziegelschotter knirscht, rötlich, krümelig.

Kritsch kritsch kritsch. Alles Rhythmus, alles Zeit. Mein Blick wendet sich zum Himmel.

Oben. Unten.

Der Morgen ist voller Magie, die ich auf der Haut spüren kann.

Oben die Sonne. Unten … ein Bruchstück eines roten Ziegels.

Darauf zwei Wörter, scharf eingeprägt wie ein Rätsel.

MANN

BERG

Ich lese. Sprache spricht mich immer an.

Ein Echo antwortet in meinem Inneren:

MOSES

SINAI

Bilder steigen auf. Der uralte Moses auf seinem Gipfel, Arme erhoben, Steintafeln leuchtend im gemalten Licht. Unzählige Künstler haben ihn in dieser Szene in gewaltige Bilder gegossen.

Die zehn Gebote.

Nicht Ver-bote. Ge-bote. Leises Wissen, eingegraben in mein Herz.

Heilige Ahnung durchzuckt die Stille, als trüge dieses Steinchen die geheime Inschrift allen Menschseins – ein Stück Göttlichkeit, getarnt als Ziegelbruch. Ein Echo der großen Tafeln.

Wie alltäglich und zerbrechlich dagegen ist das Irdische!

Ich löse mich und gehe weiter.

Fotografieren? Oder erleben?

Warum ist beides so stark – das Bedürfnis, festzuhalten, zu teilen, das Schöne für immer zu bewahren?

Am Ende siegt der Wunsch nach Gegenwart.

 

Der Tag begann früh, das Licht schimmerte noch blass, als ich an diesem Morgen das Haus verließ. Eine Viertelstunde später – am Feldrand stehend – sah ich den Himmel orangegolden leuchten, mit dem Versprechen, das noch jenseits unseres Hausbergs wartete.

Der Hunger, diesen Augenblick zu bewahren, war stärker als der Wunsch nach allein erlebtem Augenblick. Ich griff zum Handy – ein Sonnenaufgang, das erste Mal gefilmt in meinem Leben.

Wie alt muss man werden, um so etwas zum ersten Mal zu tun?

Mit jedem Atemzug flüsterte das kommende Licht neue Worte in mich:

 

Sonnenaufgang.

Es geschieht.

Ohne mein Zutun.

Für uns alle.

Ganz ohne uns.

Die Sonne wartet nicht auf mein Staunen,

 nicht auf meine Kamera,

nicht auf mein Gedicht.

Sie steigt. Geduldig. Immer.

Ich spreche still in den goldenen Morgen:

Ich grüße dich, liebe Sonne.

 

Die Freude, am Leben zu sein, füllt mich aus – trotz allem, was schmerzt, trotz allem, was zu tragen ist.

Yin und Yang, Licht und Schatten, Werden und Vergehen.

Das Gehen, der Klang der Schritte auf der Erde und in der Zeit.

 

Ich erinnerte mich an das gestrige Gespräch im Café:

Warum nur immer alles einfangen wollen?

Weil das Leben flieht und der Mensch es halten will.

Wenigstens im Bild, wenigstens als Spur.

 

 

Es zieht mich weiter über Feld und Hügel, unter der Sonne, Schritt für Schritt.

Die Schwerkraft hält mich am Boden und doch beginnt innerlich ein Schweben, eine Leichtigkeit, als löse sich mein Geist von seinem irdischen Gewicht.

Hinter mir das Gestern, vor mir das Unbekannte.

 

Dann, plötzlich, ein magisches Zeichen.

Fünf Meter, vier, drei – über mir schwebt, nein, zwieselt eine Vogelfeder zu Boden, der Kiel erdwärts, ihr Flug nicht einfach ein Fallen, mehr ein tanzender Ruf.

Keine Taube weit und breit. Wie ist das möglich?

Ein Federgruß vom Himmel. Eine Taubenfeder wie ein Bote aus einer anderen Welt.

Geführt von einer unsichtbaren Hand, als kenne sie ein uraltes Geheimnis.

Gebannt verlasse ich den Weg, gehe in das Feld.

Die Feder sticht ins Erdreich, als wolle sie Wurzeln schlagen.

Ich nehme sie vorsichtig auf.

Gold des Morgens, Magie zwischen Himmel und Erde.

Unsichtbar, und doch berührbar.

Kurzer Moment – reine Gegenwart.

 

 

Still halte ich die Feder, spüre den Kontrast in mir.

Himmel und Erde.

Und doch spüre ich einen zarten Ausgleich.

Himmel und Erde neigen sich ineinander.

 

Im Alter wächst ein neuer Horizont, und ein Stück gewachsenen Himmels bleibt in mir zurück.

 

Ich wandere weiter, beflügelt … zwischen Himmel und Erde.

 

🪽 

 

 

Kommentare von LeserInnen:
  • Festhalten, ein Zeichen setzen für die Ewigkeit ... dein Text berührt mich💖 (I. W.)
  • Steine können viel erzählen, ihre Härte lehrt uns Beständigkeit🥰Sprache spricht mich ebenso an wie dich, verströmt Magie💞 (S. P.)
  • Immer diese Widersprüche! Keine stimmt. Alle sind richtig! (P. W.)
  • Ein Sonnenaufgang ... ist immer wie das erste Mal ... Gnade ist jeden Tag neu erlebbar ... wie zum ersten Mal ... Festhalten ... Loslassen ... alles hat seine Zeit ... wunderschöne Inspiration🌸 (I. W.)
  • Wundervoll hast du diesen besonderen Moment eingefangen, wenn der Tag erwacht🥰💞 (S. P.)
  • Ein einziges Bild kann sie in einem Augenblick einfangen und für die Ewigkeit bewahren. In diesem Stillstand liegt eine tiefe Magie. (L. C.)
  • Wir können gar nichts festhalten, denn es ist der Fluss, die Wellen, das Geschehen der Wandlung. Sind wir nur Beobachter? Nein, wir sind auch Schöpfer und Gestalter. (A. G.)
  • Ich freue mich in meinem Alter jedes Mal, wenn ich etwas zum ersten Mal mache. (Th. L.) 
  • Festhalten, umarmen - vorbeiziehen lassen. So geht das! (P. W.)
  • Einfangen als Erinnerung, auch wenn es im Kopf bleibt, so sind doch nach ein paar Jahren Bilder hilfreich, um zu sehen, wie schön so mancher Anblick gewesen ist. (S. B.)
  • Ein wunderbarer Dreizeiler zum Nachdenken 💐 (D. S.)
  • Eine sehr bewegende und beflügelnde Geschichte! (Th. L.)
  • Wundervoll sind deine tiefen Gedanken! Immer wenn ich eine Feder finde, dann ist das ein Symbol für Leichtigkeit. Es erinnert mich immer wieder, nicht zu vergessen, wie Leichtigkeit sich anfühlt und wie ich sie erreiche. (A. G.)
  • Liebe Ulrike, federleicht ist deine Erzählung 🥰💞 (S. P.)
  • "Im Alter wächst der Horizont" - was für ein schöner Satz, der auch noch wahr ist! Deine Trilogie macht nachdenklich, danke dafür! (PoeSy)
  • Deine Geschichten lassen meine Flügel der Fantasie wachsen🌹🌸💖 (I. W.)

 

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